Fachliteratur  Weitere Fachbücher  Praxisratgeber  Vergabe von IT-Leistungen  4 Der sachliche Anwendungsbereich des Vergaberechts  4.4 Schwellenwerte und Auftragswertberechnung 

Werk:
Vergabe von IT-Leistungen
Herausgeber:
Hans-Peter Kulartz/Marc Opitz/Ralf Steding
Autor:
Marc Opitz
Stand:
November 2015
Thema:
Leistungen (VgV); Leistungen im IT-Bereich
Auflage:
2. Auflage

4.4.2 Die Schätzung des Auftragswerts

Ob ein Auftrag den maßgeblichen Schwellenwert erreicht oder übersteigt, ist durch eine Schätzung festzustellen und vom Auftraggeber zu dokumentieren. Maßgeblicher Zeitpunkt für diese Schätzung ist der Tag, an dem die Bekanntmachung der beabsichtigten Auftragsvergabe abgesendet oder das Vergabeverfahren auf andere Weise eingeleitet wird.1§ 3 Abs. 9 VgV. Der Auftraggeber tut gut daran, bei der Schätzung umso sorgfältiger vorzugehen, je näher seine Prognose an den maßgeblichen EU-Schwellenwert heranrückt. Gegebenenfalls muss der Auftraggeber zur Auftragswertermittlung zunächst eine Markterkundung durchführen. Die Frage, ob der öffentliche Auftraggeber den Auftragswert zutreffend bestimmt hat, ist selbstverständlich einer Nachprüfung durch die Vergabekammern und Gerichte zugänglich.

§ 3 VgV enthält einige Regeln für die Schätzung des Auftragswerts.2Vgl. auch die Parallelvorschriften § 2 SektVO und § 3 VSVgV. Die wichtigste dieser Regeln besagt, dass der Wert eines beabsichtigten Auftrags nicht in der Absicht geschätzt oder aufgeteilt werden darf, den Auftrag der Anwendung des EU-Vergaberechts zu entziehen (§ 3 Abs. 2 VgV). Von einer solchen Absicht ist jedenfalls dann auszugehen, wenn für die Aufteilung eines bestimmten Beschaffungsbedarfs auf mehrere Aufträge kein anderer (sachlicher) Grund erkennbar ist, als die Umgehung des Vergaberechts.

Maßgeblich für die Schätzung des Auftragswerts ist jeweils die Gesamtvergütung für die vorgesehene Leistung einschließlich aller Optionen, Bedarfspositionen oder etwaiger Vertragsverlängerungen. Auch Erlöse, die mit Dritten erzielt werden,3Vgl. oben Kapitel 4.1 am Ende. sind ggf. in die Schätzung einzubeziehen. Die Umsatzsteuer – die in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU unterschiedlich hoch ist – bleibt hingegen unberücksichtigt, das heißt, es wird auf die Nettovergütung abgestellt.4Art. 7 VKR, Art. 16 SKR, Art. 8 VSVKR.

Bei der Schätzung des Auftragswerts ist der Gesamtwert aller Lose zugrunde zu legen, wenn das beabsichtigte Beschaffungsvorhaben aus mehreren Losen besteht, für die jeweils ein gesonderter Auftrag vergeben wird. Erreicht oder überschreitet der Gesamtwert der Lose den EU-Schwellenwert, sind alle Lose nach dem GWB-Vergaberecht zu vergeben. Das gilt unabhängig davon, ob die Lose in einem einzigen Vergabeverfahren (zeitgleich) vergeben werden sollen, oder in mehreren Vergabeverfahren gestaffelt über einen längeren Zeitraum. Vor diesem Hintergrund stellt sich in der Praxis häufig die Frage, ob bestimmte Leistungen als Teile (Lose) eines Gesamtauftrags anzusehen sind oder isoliert betrachtet werden können. Die Rechtsprechung stellt darauf ab, ob die verschiedenen Einzelleistungen eine einheitliche wirtschaftliche oder technische Funktion erfüllen. Ist das der Fall, sind die Leistungen als Teile eines Gesamtauftrags anzusehen. So ist es etwa bei der Lieferung von Hardware und deren Installation oder Konfiguration, wenn weder die Hardware ohne diese Nebenleistungen ihre beabsichtigte Funktion erfüllen kann, noch die Nebenleistungen ohne die Hardwarelieferung für den Auftraggeber einen Sinn erfüllen würden. Anders liegen die Dinge aber zum Beispiel bei der Bereitstellung von Software und der Inanspruchnahme von Softwarepflegeleistungen, weil ein Auftraggeber eine Software – ggf. unter Inkaufnahme von Risiken – auch durchaus ohne kontinuierliche Softwarepflege betreiben kann. In funktioneller Betrachtung ist auch zu entscheiden, ob bestimmte Dienstleistungen, die formal getrennt in zeitlich hintereinander folgenden Abschnitten oder Phasen vergeben werden können, einen einheitlichen Auftrag bilden. Dies hat der europäische Gerichtshof etwa für Architektenleistungen bejaht, die ein Gesamtprojekt betreffen, dessen Ausführung nur aus haushaltstechnischen Gründen in verschiedene Bau- und Planungsabschnitte aufgeteilt wurde. Er stellt insofern auf die „innere Kohärenz“ und eine „funktionelle Kontinuität“ der einzelnen Dienstleistungen ab.5EuGH, Urteil vom 15.3.2012 – C-574/10 „Gemeinde Niedernhausen“ Tz. 40 ff. Gleichartige, einem gemeinsamen Projektziel dienende Dienstleistungen sind hiernach zusammenzufassen. Im Falle von Lieferaufträgen erfolgt eine Zusammenfassung ebenfalls für Einzelaufträge über gleichartige Lieferungen.6§ 3 Abs. 7 S. 2 VgV.

Besteht ein regelmäßig wiederkehrender Bedarf für bestimmte (gleichartige) Dienstleistungen oder Lieferungen, ohne dass diese einem gemeinsamen Projektziel dienen, ist der Auftragswert hingegen nach § 3 Abs. 3 VgV zu schätzen. Hiernach bestimmt sich der Auftragswert auf der Grundlage des tatsächlichen Gesamtwerts entsprechender aufeinanderfolgender Aufträge aus dem vorangegangenen Haushaltsjahr bzw. des auf die erste Lieferung folgenden Haushaltsjahrs. Als regelmäßig wiederkehrende Dienstleistungen können etwa Pflege- oder Wartungsleistungen für vorhandene Hard- bzw. Software anzusehen sein, die in bestimmten Perioden immer wieder neu beauftragt werden. Von regelmäßig wiederkehrenden Lieferaufträgen ist insbesondere bei der Beschaffung von Verbrauchsmaterial (z.B. Druckerpatronen) auszugehen, in der Regel jedoch nicht bei der Beschaffung von Investitionsgütern, selbst wenn eine Reinvestition nach einem gewissen (aber eben unregelmäßigen) Zeitraum erwartet werden kann. Unregelmäßig wiederkehrende Aufträge über Liefer- oder Dienstleistungen, die auch keinem gemeinsamen Projektziel dienen, können isoliert betrachtet werden, auch wenn sie vergleichbaren Inhalt haben.

Insbesondere Softwaremietverträge werden häufig auf unbestimmte Zeit abgeschlossen und die Parteien sehen lediglich Kündigungsrechte nach Ablauf einer bestimmten Mindestvertragslaufzeit vor. Auch bei Betriebsführungs-, Wartungs- oder Pflegeverträgen ist das oftmals so. Für derartige Aufträge über Liefer- oder Dienstleistungen mit unbestimmter Laufzeit oder mit einer Laufzeit von mehr als 48 Monaten ist nach § 3 Abs. 4 Nr. 2 VgV der 48-fache Monatswert als Auftragswert anzusetzen. Bei zeitlich begrenzten Aufträgen mit einer Laufzeit von bis zu 48 Monaten gilt der Gesamtwert für die Laufzeit des Auftrags (§ 3 Abs. 4 Nr. 1 VgV).

Der Wert einer Rahmenvereinbarung oder eines dynamischen elektronischen Verfahrens wird auf der Grundlage des geschätzten Gesamtwerts aller Einzelaufträge berechnet, die während der Laufzeit geplant sind (§ 3 Abs. 6 VgV). Planung bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass sich der Auftraggeber schon sicher sein muss, in welchem Umfang er Einzelleistungen aus der Rahmenvereinbarung abrufen wird. Andererseits ist auch nicht auf die maximal möglichen Einzelabrufe abzustellen, denn das würde bei mengenoffenen Rahmenvereinbarungen stets zu einer Überschreitung der Schwellenwerte führen.