§ 1 Abs. 1 VOF bestimmt mit den gleichen Worten wie § 5 VgV,1Vergabeverordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. Februar 2003 (BGBl. I S. 169), die durch Artikel 1 der Verordnung vom 16. August 2011 (BGBl. I S. 1724) geändert worden ist. dass die VOF auf die Vergabe von Dienstleistungen ihres Anhangs I Teil A Anwendung findet, die im Rahmen einer freiberuflichen Tätigkeit erbracht oder im Wettbewerb mit freiberuflich Tätigen angeboten werden. Außerdem müssen diese Dienstleistungen dieselben Bedingungen erfüllen, wie sie § 5 VgV in negativer Form definiert: sie müssen für eine Aufgabe erfolgen, deren Lösung nicht vorab eindeutig und erschöpfend beschrieben werden kann.
Dienstleistungen stellen im öffentlichen Vergaberecht einen Auffangtatbestand für die Leistungen dar, die weder Bau- noch Lieferleistungen sind. Dazu gehören auch die Dienstleistungen, die üblicherweise von freiberuflich Tätigen erbracht werden. Was jedoch eine freiberufliche Tätigkeit genau ist, ist in den Europäischen Richtlinien weder geregelt noch definiert. Dasselbe gilt für die VgV, die VOL/A, die VOF und die SektVO, mit denen die in der VKR und SKR enthaltenen Richtlinien für den Bereich der Vergabe freiberuflicher Leistungen in deutsches Recht umgesetzt worden sind.
Dies ist allerdings bezüglich des Anwendungsbereichs der VOF von untergeordneter Bedeutung. Aus der Formulierung der Vorschrift wird nämlich deutlich, dass die VOF auf die Tätigkeit abstellt, nicht darauf, ob der Erbringer dieser Leistungen freiberuflich tätig ist oder nicht. Dennoch ist es für das Verständnis der VOF und für ihre Anwendung wichtig zu wissen, was unter freiberuflicher Tätigkeit und freiberuflichen Leistungen zu verstehen ist.
Zum Zweck der Definition freiberuflicher Leistungen kann auf die Definition von freiberuflich Tätigen, den sog. Freien Berufen, in anderen Rechtsgebieten erhellend zurückgegriffen werden. Durch Parallelbetrachtung zu § 1 VOL/A ist davon auszugehen, dass der in der Fußnote zu § 1 VOL/A enthaltene Katalog des § 18 Einkommensteuergesetz (EStG) in gleicher Weise bei der VOF anwendbar ist. Aus der im Wortlaut leicht abweichenden Definition des § 1 VOL/A ergibt sich auch, dass es sich bei den zu freiberuflich Tätigen im Wettbewerb Stehenden um Gewerbebetriebe handelt, die Leistungen erbringen, die typischerweise von Freiberuflern erbracht werden. Hiermit wird klargestellt, dass die freiberufliche Leistung als solche im Vordergrund steht, nicht der Leistungserbringer. So können auch sog. Handelsgesellschaften gem. §§ 105 ff. HGB (oHG, KG), juristische Personen des Privatrechts, sog. Kapitalgesellschaften, die per definitionem mit Handelsregistereintragung als Gewerbebetriebe gelten2Vgl. § 1 ff. HGB, insbesondere § 2 HGB in Verbindung mit § 7 GmbHG., ebenfalls freiberufliche Leistungen erbringen; sie stehen damit im Wettbewerb mit freiberuflich Tätigen. Entsprechendes gilt für vergleichbare ausländische Gesellschaften aus der Europäischen Union.
Die VOF will also die freien Berufe nicht zu Lasten von Gewerbebetrieben bevorzugen. Dies wäre auch nicht mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 6 EG-Vertrag vereinbar. Werden aber die gleichen qualifizierten Dienstleistungen sowohl von freiberuflich Tätigen als auch von Gewerbebetrieben angeboten, so bietet die VOF ein für diese Arten von Leistungen speziell angepasstes Vergabeverfahren.
Eine freiberufliche Tätigkeit liegt nach der Steuergesetzgebung3Siehe unter http://www.steuerlexikon-online.de/Selbststaendige-Taetigkeit.html. vor, wenn sie nicht weisungsgebunden ausgeübt wird und keine Einbindung in die Organisationsstruktur eines Unternehmens vorliegt. Von der selbstständigen Tätigkeit ist die gewerbliche Tätigkeit abzugrenzen. Letztere liegt vor, wenn unter Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr eine selbstständige, nachhaltige Betätigung ausgeführt wird, die darauf gerichtet ist, Gewinn zu erzielen. Dabei darf es sich nicht um eine Betätigung in der Land- und Forstwirtschaft und gerade nicht um die Ausübung eines freien Berufes handeln.
§ 6 der Gewerbeordnung und § 18 EStG befassen sich mit den Freien Berufen; sie zählen diese jedoch lediglich auf, ohne eine allgemein gebräuchliche Definition zu liefern. Dies liegt daran, dass es sich um einen unscharfen soziologischen Begriff aus der Zeit des frühen Liberalismus handelt, der nicht ganz einheitlich verwandt wurde und einem Wandel in der Betrachtung unterlag.4Stuhrmann, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, Bd. 9, § 18 Rn. 316 ff. Denn er geht auf die mittelalterlichen „septem artes liberales“ zurück (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie als Vorbereitung für die Studien: Theologie, Recht, Medizin).5Vgl. http://www.wikipedia.de; vgl. auch Bartl, Handbuch Öffentliche Aufträge, S. 228.
Freiberufliche Leistungserbringer sind analog zur Regelung in § 1 VOL/A dem Katalog des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG zu entnehmen; die dortige Aufzählung ist nicht abschließend. Sie lautet:
»Zu der freiberuflichen Tätigkeit gehören die selbstständig ausgeübte wissenschaftliche, künstlerische, schriftstellerische, unterrichtende oder erzieherische Tätigkeit, die selbstständige Berufstätigkeit der Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Rechtsanwälte, Notare, Patentanwälte, Vermessungsingenieure, Ingenieure, Architekten, Handelschemiker, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, beratenden Volks- und Betriebswirte, vereidigten Buchprüfer (vereidigten Bücherrevisoren), Steuerbevollmächtigten, Heilpraktiker, Dentisten, Krankengymnasten, Journalisten, Bildberichterstatter, Dolmetscher, Übersetzer, Lotsen und ähnliche Berufe. Ein Angehöriger eines freien Berufes ist auch dann freiberuflich tätig, wenn er sich der Mithilfe fachlich vorgebildeter Arbeitskräfte bedient; Voraussetzung ist, dass er aufgrund eigener Fachkenntnisse leitend und eigenverantwortlich tätig wird. Eine Vertretung im Fall vorübergehender Verhinderung steht der Annahme einer leitenden und eigenverantwortlichen Tätigkeit nicht entgegen; [...]«
§ 1 Abs. 2 PartGG6Partnerschaftsgesellschaftsgesetz vom 25. Juli 1994 (BGBl. I S. 1744), zuletzt geändert durch Artikel 12 Abs. 12 des Gesetzes vom 10. November 2006 (BGBl. I S. 2553). definiert die freiberuflich Tätigen nahezu wortgleich:
»Ausübung eines freien Berufs im Sinne dieses Gesetzes ist die selbstständige Berufstätigkeit der Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Heilpraktiker, Krankengymnasten, Hebammen, Heilmasseure, Diplompsychologen, Mitglieder der Rechtsanwaltskammern, Patentanwälte, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, beratenden Volks- und Betriebswirte, vereidigten Buchprüfer (vereidigten Buchrevisoren), Steuerbevollmächtigten, Ingenieure, Architekten, Handelschemiker, Lotsen, hauptberuflichen Sachverständigen, Journalisten, Bildberichterstatter, Dolmetscher, Übersetzer und ähnlicher Berufe sowie der Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller, Lehrer und Erzieher.«
Die in Rn. 5 genannten Kennzeichen stimmen auch mit den Anerkennungsvoraussetzungen für „Beratende Ingenieure“ nach den einschlägigen Ingenieurkammergesetzen der Länder überein. Die eigenen Fachkenntnisse sind der Garant dafür, dass der freiberuflich Tätige bei Ausübung seiner Berufstätigkeit weder eigene noch fremde Produktions-, Handels- oder Lieferinteressen vertritt, die unmittelbar im Zusammenhang mit seiner eigenen Berufsausübung stehen. Dieses selbstständige und unabhängige Handeln liegt immer dann vor, wenn z. B. der Beratende Ingenieur
bei Umsetzung seiner Leistungen den Einsatz alternativer technischer Lösungen ermöglicht,
keine Provisionen, Rabatte oder sonstige Vergünstigungen annimmt und
keine gewerbliche Tätigkeit ausübt, die in einem Zusammenhang mit der eigenen Berufsausübung steht.
Die eigenverantwortliche Tätigkeit eines Beratenden Ingenieurs bestimmt beispielsweise § 13 Abs. 2 des Ingenieurkammergesetzes Baden-Württemberg7Ingenieurkammergesetz Baden-Württemberg vom 8.1.1990, Stand Dezember 2010, abrufbar unter http://www.ingbw.de/fileadmin/pdf/Merblatt-Gesetze/M001_Ingenieurkammergesetz.pdf. wie folgt:
»Eigenverantwortlich ist, wer entweder seine berufliche Tätigkeit als einziger Inhaber seines Büros selbstständig auf eigene Rechnung und Verantwortung ausübt oder, wenn er sich mit Beratenden Ingenieuren oder Angehörigen anderer Berufe zusammengeschlossen hat, innerhalb dieses Zusammenschlusses eine Rechtsstellung besitzt, kraft deren er die Ausübung seiner Berufsaufgaben unbeeinflusst durch Rechte berufsfremder Dritter innerhalb und Rechte Dritter außerhalb bestimmen kann.«
Die Architektengesetze der Länder regeln jeweils in § 2 Abs. 2, wer sich als „Freier Architekt“ bezeichnen darf. Voraussetzung ist ebenfalls die eigenverantwortliche und unabhängige Berufsausübung des Architekten. Damit liegt eine mit der Definition des Beratenden Ingenieurs identische Regelung vor.
Neben der persönlichen Arbeitsleistung des freiberuflich Tätigen und seiner Unabhängigkeit von Weisungen Dritter ist eine freiberufliche Tätigkeit auch dadurch gekennzeichnet, dass die Vergütung dieser Leistungen tätigkeits- oder wertbezogen erfolgt (Dienstverträge, Werkverträge).
Das Bundesverfassungsgericht charakterisiert neben den sog. Katalogberufen des EStG und des PartGG die freiberufliche Tätigkeit als selbstständig ausgeübte wissenschaftliche, künstlerische, schriftstellerische, unterrichtende oder erzieherische Tätigkeit.8BVerfG, Bundessteuerblatt 1979, Bd. II, S. 125. Freiberuflich tätig zu sein bedeutet nach allgemeinem Verständnis, gem. BVerfG und o. g. gesetzlicher Regelungen folgende Anforderungen an den Freiberufler:
Besondere berufliche Qualifikation oder schöpferische Begabung,
Dienstleistungen höherer Art erbringen,
selbstständig und fachlich unabhängig sein sowie
mit persönlichem Einsatz und leitend, letztlich aber eigenverantwortlich (ggf. unter Mithilfe fachlich vorgebildeter Arbeitskräfte) tätig sein und
seine Tätigkeit im Auftraggeber- und Allgemeininteresse erbringen.
§ 18 EStG und § 1 PartGG sind nicht abschließend. Sie verweisen auf „ähnliche Berufe“. Was hierunter zu verstehen ist, ergibt sich nur durch einen Vergleich mit den sog. Katalogberufen und vorstehend aufgelisteter Kriterien. Es ist danach zu fragen, ob der ähnliche Beruf nach seiner Struktur und Funktion viele Parallelen zu einem der Katalogberufe aufweist. Es darf sich dabei nicht um eine geringfügige Randtätigkeit handeln.9OLG Celle, BB 1996, 2219. Einzubeziehen sind die allgemeine rechtliche und berufsrechtliche Ausgestaltung des Berufs und die Verkehrsanschauung, die Stellung und Bedeutung des Berufs im Sozialgefüge und die Qualität der erforderlichen Berufsausübung.10BVerfGE 46, 224, 242.
Im Rahmen einer steuerrechtlichen Fragestellung befasste sich der EuGH mit dem Begriff des freien Berufes. Charakteristisch sind demnach Tätigkeiten, die eines intellektuellen Charakters und einer hohen Qualifikation bedürfen und üblicherweise einer genauen und strengen berufsständischen Regelung unterworfen sind. Kennzeichnend für die freiberufliche Tätigkeit sei das persönliche Element, welches eine große Selbstständigkeit bei der Vornahme der beruflichen Handlungen voraussetze.11EuGH, 11.10.2001 – C-267/99.
Bei der gesetzlich nicht geschützten Berufsbezeichnung „Unternehmensberater“, die vielfach eine schillernde Anwendung findet, ist im Einzelfall darauf abzustellen, ob eine besondere Qualifikation, z. B. ein Studium, erforderlich ist. Ob eine breit gefächerte Beratungstätigkeit12So aber Kulartz in: Müller-Wrede, § 1 VOF, Rn. 12. als weiteres Merkmal hinzukommen muss, erscheint fraglich, da von Beratern vermehrt Spezialwissen anstelle von Generalwissen verlangt wird. Vielmehr wird auf eine anspruchsvolle, da komplexe Aufgabenstellung abzustellen sein.
Bei einer rein gewerblichen Tätigkeit steht die Gewinnerzielungsabsicht im Vordergrund. Für den Freiberufler wird hingegen vertreten, dass bei ihm die Gewinnerzielungsabsicht nicht im Vordergrund stünde, da ihm eine übergeordnete Mitverantwortlichkeit für das Ganze auferlegt sei.13Vgl. insb. Neuenfeld/Baden/Dohna/Groscurth, Handbuch des Architektenrechts, Bd. I, 1996, 23 f. Hiermit dürfte das bereits zuvor angesprochene Allgemeininteresse (z. B. Baukultur, Umweltschutz, Rechtspflege) gemeint sein.