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Thema:
Vergabe

Rechtliche Entscheidungsspielräume des öffentlichen Auftraggebers

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Das Vergaberecht schreibt dem öffentlichen Auftraggeber den rechtlichen Rahmen seines Handelns nicht exakt vor, sondern räumt ihm an zahlreichen Stellen rechtliche Entscheidungsspielräume ein. Existiert ein solcher Spielraum, ist die Entscheidung durch ein Gericht, eine Vergabekammer, eine Behörde, die nur Rechtsaufsicht über den Auftraggeber ausübt, oder einen Fördermittelgeber nur eingeschränkt überprüfbar. Sofern die Entscheidung „vertretbar“ ist, ist sie rechtmäßig. Die überprüfende Instanz muss sie hinnehmen, selbst wenn sie eine andere Entscheidung bevorzugt hätte. Im Vergaberecht existieren Entscheidungsspielräume bei Einräumung von Ermessen und bei Einräumung eines Beurteilungsspielraums.

1. Ermessen

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Ganz allgemein hat die Verwaltung in zwei Fällen Ermessen.

Ermessenausübung ist Interessenabwägung unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit. Im Rahmen der Abwägung stehen sich im Vergaberecht gegenüber:

Beispiele

Nach § 124 Abs. 1 GWB kann ein öffentlicher Auftraggeber einen Bieter vom Vergabeverfahren ausschließen, wenn die Voraussetzungen einer der Alternativen Nr. 1 bis Nr. 9 vorliegen. Nr. 7 gestattet beispielsweise diesen Ausschluss, wenn ein Bieter bei früheren Aufträgen erheblich oder fortdauernd vertragsbrüchig geworden ist und der Auftraggeber mit Kündigung, Schadensersatz oder Ähnlichem reagiert hat. Bei der Interessenabwägung im Rahmen der Ermessensausübung können zahlreiche Aspekte eine Rolle spielen: Bei fortdauernden Vertragsverletzungen die Schwere dieser Vertragsverletzungen (Ausschluss bei 100 kleineren Pflichtverletzungen im Rahmen von 10.000 Einzelleistungen über einen Zeitraum von drei Jahren?), das Maß an Ähnlichkeit der Leistungen des früheren Auftrags und des jetzigen Auftrags (Ausschluss bei Vertragsverletzungen im Rahmen eines Auftrags über Gebäudereinigung, wenn es im vorliegenden Verfahren um Gebäudeüberwachung geht?), Wegfall der Ursache für frühere Probleme (Ausschluss, wenn der maßgeblich verantwortliche Mitarbeiter seine Vorgesetzten gezielt getäuscht hat und inzwischen nicht mehr für das Unternehmen arbeitet?).

Es ist anerkannt, dass ein öffentlicher Auftraggeber im Vorfeld eines förmlichen Vergabeverfahrens das Gespräch mit Marktteilnehmern suchen kann, um seinen Bedarf exakter bestimmen zu können (Interessentenkonferenz). Wie er dabei vorzugehen hat, ist vergaberechtlich nicht geregelt, es besteht Ermessen. Bei der Ausgestaltung dieses Kommunikationsprozesses ist einerseits zu berücksichtigen, dass der Auftraggeber einen übermäßigen bürokratischen Aufwand und Zeitverlust vermeiden möchte. Andererseits muss er transparent und diskriminierungsfrei (=Vergabegrundsätze) agieren. So muss er öffentlich zu diesem Gespräch einladen und allen Interessenten eine Teilnahme ermöglichen.

2. Beurteilungsspielraum

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Über einen Beurteilungsspielraum verfügt die Verwaltung dann, wenn es um die Einschätzung fachlich-technischer Fragen geht. Grundsätzlich gilt, dass unsere Rechtsordnung den Inhalt dieser Entscheidungen nicht vorgeben kann und möchte, sondern nur einen Rahmen setzt, der die Wahrscheinlichkeit richtiger Entscheidungen maximiert. Je nach Rechtsgebiet verfügt die Verwaltung mal über mehr, mal über weniger oder gar keinen Beurteilungsspielraum. Im Vergaberecht spielt der Beurteilungsspielraum eine große Rolle. Denn das Vergaberecht ist ein Rechtsgebiet, das sehr nah an fachlich-technischen Entscheidungen liegt.

In der Regel knüpft der Beurteilungsspielraum an einen unbestimmten Rechtsbegriff an, der im Tatbestand einer Norm zu finden ist. Die allgemeine Regel ist, dass die Konkretisierung eines unbestimmten Rechtsbegriffs rechtlich voll überprüfbar ist. Das Vorliegen eines Beurteilungsspielraums in einem solchen Fall ist die Ausnahme. Nicht immer lässt sich sicher bestimmen, ob ein solcher Beurteilungsspielraum existiert oder nicht. Im Zweifelsfall kann dies gerichtlich geklärt werden.

Beispiele

Nach § 127 Abs. 1 GWB ist der Zuschlag auf das wirtschaftlichste Angebot zu erteilen. Bei der Frage, welches der Angebote im konkreten Einzelfall das wirtschaftlichste ist, hat der Auftraggeber einen Beurteilungsspielraum (z. B. „Welches Konzept ist besser?“).

Grundsätzlich gilt nach § 97 Abs. 4 S. 1 GWB, dass ein Auftrag ab einer bestimmten Größe in Einzelaufträge („Lose“) zerlegt werden muss. Hierauf kann nach S. 2 verzichtet werden, wenn wirtschaftliche oder technische Gründe dies erfordern. Diesbezüglich existiert ein Beurteilungsspielraum.

3. Fehler bei Ausübung Ermessen und Beurteilungsspielraum

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Die Ausübung eines Ermessens- oder Beurteilungsspielraums ist nur eingeschränkt überprüfbar. Bei der Ausübung von Ermessen unterscheidet man üblicherweise folgende Fehler:

Für Fehler bei der Ausübung des Beurteilungsspielraums hat sich dagegen folgende Kategorisierung durchgesetzt:

Eine nähere inhaltliche Analyse ergibt, dass im Ergebnis zwischen Fehlern beim Beurteilungs- und Ermessenspielraum keine nennenswerten Unterschiede existieren. In beiden Fällen gilt: Ein Fehler liegt vor, wenn die Verwaltung nicht sorgfältig gearbeitet hat. Die nachfolgenden Beispiele für Fehler bei der Ausübung von Ermessen oder eines Beurteilungsspielraums orientieren sich aus Vereinfachungsgründen an der griffigeren Kategorisierung zum Beurteilungsspielraum.

Beispiele (in Anknüpfung an vorherige Beispiele)

Falsche Ermittlung des Sachverhalts:

Der Auftraggeber schließt einen Bieter nach § 124 Abs. 1 Nr. 7 GWB vom Vergabeverfahren aus, in der Annahme, es habe in einem früheren Auftragsverhältnis 100 kleinere Pflichtverletzungen gegeben. In Wahrheit waren es nur 80.

Bei der Beurteilung eines Konzepts eines Bieters im Rahmen einer Wirtschaftlichkeitsprüfung des Angebots übersieht der zuständige Mitarbeiter eine Anlage zum Konzept, in der wichtige Informationen zu finden sind.

Keine Erwägungen:

Die Gründe für eine schwierige und komplexe Entscheidung werden nicht aktenkundig gemacht.

Sachwidrige Erwägungen:

Der Auftraggeber begründet einen Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 7 GWB damit, dass ein Zeichen gesetzt werden soll, um allgemein die Vertragstreue der Auftragnehmer zu verbessern. Ein solcher verallgemeinernder Präventionsgedanke ist dem Vergaberecht fremd.

Bei der Bewertung eines Konzepts wertet der Auftraggeber kleinere Schwächen im Layout in völlig unverhältnismäßiger Weise negativ.

Unvertretbares Ergebnis:

Der Auftraggeber veröffentlicht eine Einladung zur Interessentenkonferenz, die in zwei Tagen stattfinden soll. Außer in absoluten Eilfällen ist eine solche Frist nach allen Maßstäben unvertretbar kurz.

Das Konzept des Bieters X ist nach allen fachlichen Maßstäben unzweifelhaft das Beste, wird aber trotzdem schlechter bewertet als das Konzept des Bieters B.

Die drei ersten Fehler sind Fehler auf dem Weg zum Ergebnis. Das Ergebnis selbst kann also durchaus rechtmäßig sein.

Beispiele (in Anknüpfung an vorherige Beispiele)

Ein Ausschluss des Bieters aufgrund von 80 Pflichtverletzungen im Rahmen eines früheren Auftrags kann durchaus rechtmäßig sein, muss aber dann auf Grundlage der richtigen Fakten begründet werden.

Unabhängig von der sachwidrigen Begründung mit dem Ausschluss des Bieters, „ein Zeichen setzen zu wollen“, kann der Ausschluss mit vergaberechtskonformer Begründung zulässig sein.