Fachliteratur  Kommentare und Handbücher  Praxiskommentar Kartellvergaberecht  Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)  Vierter Teil Vergabe öffentlicher Aufträge  Dritter Abschnitt Sonstige Regelungen  § 126 Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens  C. Weiterreichende Schadensersatzansprüche nach Satz 2 

Werk:
Praxiskommentar Kartellvergaberecht
Autor:
Hattig
Stand:
Januar 2014
Auflage:
2. Auflage
§ 126

Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens

1Hat der Auftraggeber gegen eine den Schutz von Unternehmen bezweckende Vorschrift verstoßen und hätte das Unternehmen ohne diesen Verstoß bei der Wertung der Angebote eine echte Chance gehabt, den Zuschlag zu erhalten, die aber durch den Rechtsverstoß beeinträchtigt wurde, so kann das Unternehmen Schadensersatz für die Kosten der Vorbereitung des Angebots oder der Teilnahme an einem Vergabeverfahren verlangen. 2Weiterreichende Ansprüche auf Schadensersatz bleiben unberührt.

III. Schadensersatzanspruch aus § 823 BGB

1. § 823 Abs. 1 BGB

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Ein Anspruch auf Schadensersatz aus § 823 Abs. 1 BGB kommt in vergaberechtlichen Sachverhalten nur unter dem Gesichtspunkt eines Eingriffs in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbetrieb in Betracht. Der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb zählt zu den sonstigen Rechten, die durch § 823 Abs. 1 BGB gegen rechtswidrige Eingriffe geschützt werden sollen. Der durch § 823 Abs. 1 BGB vermittelte Schutz des Betriebsinhabers soll jedoch die Fortsetzung der bisher rechtmäßig ausgeübten Tätigkeit sichern; Voraussetzung für den Anspruch ist daher eine unmittelbare Beeinträchtigung des Gewerbebetriebs als solchen (BGH vom 15.11.1982, II ZR 206/81); ein bloßer Vermögensschaden wird dagegen über § 823 Abs. 1 BGB nicht ersetzt, da § 823 BGB das Vermögen als solches nicht schützt (OLG Düsseldorf vom 30.1.2003, 5 U 13/02). Wegen dieser Anforderungen kommt § 823 Abs. 1 BGB für vergaberechtliche Sachverhalte praktisch kaum Bedeutung zu. Betriebsbezogene Eingriffe in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb können jedoch in der Verhängung einer Vergabesperre liegen. Der öffentliche Auftraggeber kann daher dem von der Sperre betroffenen Unternehmen zum Schadensersatz nach § 823 Abs. 1 BGB verpflichtet sein, wenn er selbst oder eine Person, für deren Verhalten er nach § 831 BGB einzustehen hat, zu der Vergabesperre ohne einen rechtfertigenden Grund gegriffen hat (LG Berlin vom 22.3.2006, 23 O 118/04). Eine Vergabesperre ist jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn in dem Unternehmen nachweislich schwere Verfehlungen begangen wurden (LG Berlin vom 22.3.2006, 23 O 118/04). Schwere Verfehlungen können vor allem auf den Geschäftsverkehr bezogene Verstöße gegen strafrechtliche Bestimmungen sein oder schwerwiegende Rechtsverstöße gegen Normen, die grundlegende Prinzipien des Vergaberechts schützen (Wettbewerb, Gleichbehandlung etc.). Bloße Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich einer ordnungsgemäßen Vertragserfüllung, mögen sie auch Gegenstand eines Rechtsstreites oder eines selbständigen Beweisverfahrens sein, stellen z.B. noch keine schwere Verfehlung in diesem Sinne dar (LG Düsseldorf vom 16.3.2005, 12 O 225/04).

2. § 823 Abs. 2 BGB

a) Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB

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Ein Anspruch auf Schadensersatz aus § 823 Abs. 2 BGB setzt die rechtswidrige und schuldhafte Verletzung eines Schutzgesetzes i.S.v. § 823 BGB voraus. Schutzgesetz in diesem Sinne ist jede Rechtsnorm, die zumindest auch dem Schutz des Einzelnen oder eines abgrenzbaren Personenkreises vor einer Verletzung ihrer Rechtsgüter dient. Vorausgesetzt wird die rechtswidrige Verletzung einer in formellen Gesetzen, zu denen auch der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gehört, in Rechtsverordnungen, in autonomen Satzungen und in Tarifverträgen enthaltenen oder aufgrund Gewohnheitsrechts bestehenden Vorschrift durch den Anspruchsgegner, die zumindest auch den Individualinteressen des Anspruchstellers zu dienen bestimmt ist und den Anspruchsteller (auch) vor den Schäden schützen soll, die dieser im konkreten Fall ersetzt verlangt.

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Bei Beschaffungsvorgängen, die nach dem 4. Teil des GWB abzuwickeln sind, sind Schutzgesetze i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB zunächst die Vorschriften des 4. Teils des GWB selbst, die Vorschriften der VgV sowie die Vorschriften der einschlägigen Vergabe- und Vertragsordnung, soweit sie nicht eine reine Ordnungsfunktion haben oder ausschließlich aus hauswirtschaftlichen oder -rechtlichen Gründen erlassen sind oder nicht ausschließlich gesamtwirtschaftlichen Zielen dienen. Das folgt aus § 97 Abs. 7 GWB i.V.m. §§ 4 ff. VgV, § 97 Abs. 6 GWB. Wegen der Einzelheiten wird auf die Kommentierung zu dem Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB (Rn. 71 ff.) verwiesen. § 823 Abs. 2 BGB kann insbesondere dann in Betracht kommen, wenn ein notwendiges Vergabeverfahren nicht durchgeführt wurde (KG vom 27.11.2003, 2 U 174/02). An der Notwendigkeit, einen Schaden darzulegen, wird der Anspruch jedoch regelmäßig scheitern.

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Der Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB kann dagegen nicht darauf gestützt werden – was vor allem bei Auftragsvergaben unterhalb der Schwellenwerte von Bedeutung ist –, der Anspruchsgegner habe bei seiner Beschaffungsmaßnahme die einschlägige Haushaltsordnung oder Vorschriften der einschlägigen Vergabe- und Vertragsordnung bzw. sonstige selbst gesetzte eigene Vorgaben missachtet. Die Regeln des Haushaltsrechts stellen keine Schutzgesetze zugunsten eines am Auftrag interessierten Unternehmens dar; die Vergabe- und Vertragsordnungen als solche enthalten keine Regeln mit Rechtssatzqualität, sondern verwaltungsinterne Regeln (z.B. OLG Thüringen vom 8.12.2008, 9 U 431/08). Die eigenen Vorgaben des Auftraggebers besitzen diese Qualität ebenfalls nicht.

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Bei Beschaffungsmaßnahmen außerhalb der Geltung des GWB haben die öffentlichen Auftraggeber jedoch den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu beachten. Einer staatlichen Stelle, die einen öffentlichen Auftrag vergibt, ist es daher verwehrt, das Vergabeverfahren oder die Kriterien der Vergabe willkürlich zu bestimmen (BVerfG vom 13.6.2006, 1 BvR 1160/03). Das Willkürverbot ist verletzt, wenn der Anspruchsteller keine faire Chance bekommen hat, den Auftrag zu erhalten (BVerfG vom 13.6.2006, 1 BvR 1160/03). Dementsprechend kann der Anspruchsteller den Schaden nach § 823 Abs. 2 BGB einklagen, der als adäquate Folge eines Verstoßes gegen das Willkürverbot entstanden ist (vgl. OLG Stuttgart vom 11.4.2002, 2 U 240/01). Dabei ist festzustellen, ob die Ungleichbehandlung von Bietern oder Bewerbern noch als sachlich vertretbare Maßnahme angesehen werden kann. Hierbei spielt auch eine Rolle, ob der Anspruchsgegner von seinen selbst festgelegten Gesichtspunkten für die Auswahl des erfolgreichen Angebots ohne sachlichen Grund abgewichen ist. Denn die tatsächliche Vergabepraxis des Auftraggebers führt zu einer Selbstbindung, die den Vergabe- und Vertragsordnungen und den verwaltungsinternen Regelungen über Verfahren und Kriterien der Vergabe eine mittelbare Außenwirkung verleiht, so dass Verstöße hiergegen Ansprüche aus unerlaubter Handlung begründen können (OLG Brandenburg vom 17.12.2007, 13 W 79/07). Die Ungleichbehandlung und der rechtfertigende Grund müssen zudem in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen, was eine differenzierte Prüfung des Einzelfalles erfordert. Als Verstoß gegen das Willkürverbot wurde z.B. angesehen, wenn die Leistungsbeschreibung derart lücken- und fehlerhaft ist, dass eine Vergleichbarkeit der auf ihr basierenden Angebote ausgeschlossen ist (LG Frankfurt/Oder vom 14.11.2007, 13 O 360/07; LG Cottbus vom 24.10.2007, 5 O 99/07).

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Zudem haben öffentliche Auftraggeber i.S.d. EU-Vergaberichtlinien nach der Rechtsprechung des EuGH auch bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen, die den jeweiligen Schwellenwert nicht erreichen oder für die der 4. Teil des GWB aus einem anderen Grund nicht gilt (z.B. wegen § 100 Abs. 2 GWB), die Grundfreiheiten zu beachten. Hierzu zählt insbesondere das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV), die Warenverkehrsfreiheit (Art. 34 AEUV), die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) sowie die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV). Auf der Grundlage dieser gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben sind die öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, bei einer Beschaffung zugunsten der potenziellen Bieter einen angemessenen Grad von Öffentlichkeit herzustellen, der den Markt dem Wettbewerb öffnet (EuGH vom 7.12.2000, Rs. C-324/98). Hiervon sind Aufträge ausgenommen, deren „Binnenmarktrelevanz“ (vgl. hierzu eingehend Deling, NZBau 2011, 725 und dies., NZBau 2012, 17) fehlt, die also wegen besonderer Umstände, wie z.B. einer nur sehr geringfügigen wirtschaftlichen Bedeutung für die Wirtschaftsteilnehmer aus anderen Mitgliedstaaten, nicht von Interesse sind, so dass die Auswirkungen auf die Grundfreiheiten zu zufällig und mittelbar werden, als dass auf deren Verletzung geschlossen werden könnte (EuGH vom 21.7.2005, Rs. C-231/03 Rn. 20 m.w.N.; EuGH vom 20.10.2005, Rs. C-264/03 Rn. 32). Ob der fragliche Auftrag, dessen geschätzter Wert unter dem jeweiligen EU-Schwellenwert liegt, für Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten von Interesse, also „binnenmarktrelevant“, sein könnte, muss der Auftraggeber in jedem Einzelfall prüfen. Diese Prüfung unterliegt der gerichtlichen Kontrolle (OLG Düsseldorf vom 7.3.2012, VII-Verg 78/11). Der Auftraggeber hat hierzu eine Prognose darüber anzustellen, ob der Auftrag nach den konkreten Marktverhältnissen, d.h. mit Blick auf die angesprochenen Branchenkreise und ihre Bereitschaft, Aufträge gegebenenfalls in Anbetracht ihres Volumens und des Ortes der Auftragsdurchführung auch grenzüberschreitend auszuführen, für ausländische Anbieter interessant sein könnte (BGH vom 30.8.2011, X ZR 55/10; vgl. Europäische Kommission, Mitteilung zu Auslegungsfragen in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht, das für die Vergabe öffentlicher Aufträge gilt, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen, ABl. Nr. C 179 vom 1.8.2006, S. 2; vgl. hierzu EuG vom 20.5.2010, T-258/06). Kommt der Auftraggeber zu dem Schluss, dass dies der Fall ist, muss die Vergabe unter Einhaltung der aus dem Gemeinschaftsrecht abgeleiteten Grundanforderungen erfolgen (OLG Dresden vom 12.10.2010, WVerg 009/10). Ein grenzüberschreitendes Interesse hat die Rechtsprechung z.B. für das Drei-Länder-Eck Passau ohne Weiteres bejaht (OLG München vom 30.6.2011, Verg 5/09).

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Die genannten gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben fordern im Interesse potenzieller Bieter, den jeweiligen Beschaffungsbedarf so bekannt zu machen, dass ein Interesse an dem jeweiligen Auftrag rechtzeitig bekundet werden kann (EuGH vom 21.7.2005, Rs. C-231/03), die bedarfsgerechte Leistung diskriminierungsfrei zu bestimmen (EuGH vom 3.12.2001, Rs. C 59/00), dem tatsächlich Interessierten zu ermöglichen, rechtzeitig ein der Nachfrage gerecht werdendes Angebot abzugeben und über den Zuschlag unparteiisch (EuGH vom 7.12.2000, Rs. C-324/98) und ohne Willkür eine sachgerechte Entscheidung zu treffen. Aus der Pflicht zur Beachtung dieser Grundsätze bei grenzüberschreitendem Interesse folgt nach ständiger Rechtsprechung des EuGH die Pflicht zur europaweiten Ausschreibung (OLG Düsseldorf vom 7.3.2012, VII-Verg 78/11).

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Da diese Vorgaben zugunsten von Unternehmen wirken sollen, die an öffentlichen Aufträgen interessiert sein könnten, können auch sie als Schutzgesetze i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB angesehen werden. Hält sich ein öffentlicher Auftraggeber unter den genannten Voraussetzungen nicht an diese Vorgaben, kann auch ein hierdurch beeinträchtigtes Unternehmen aus § 823 Abs. 2 BGB Schadensersatz verlangen.

b) Zurechenbarer Schaden

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Hinsichtlich der Voraussetzungen, die die Kausalität und den Schaden betreffen, wird auf die Ausführungen in Rn. 84 ff. und 89 ff. verwiesen. Das positive Interesse kann auch hier in aller Regel nur dann als ein durch die Verletzung des Schutzgesetzes zurechenbarer Schaden angesehen werden, wenn der Anspruchsteller bei rechtmäßigem Vorgehen des Anspruchsgegners den Auftrag hätte erhalten müssen und der Auftrag tatsächlich anderweitig erteilt worden ist. Hat der Anspruchsteller Kenntnis vom Fehlverhalten des Anspruchsgegners, sind seine Vermögenseinbußen nicht zu ersetzen, weil er sie gewissermaßen auf eigenes Risiko übernommen hat. Ein solches Verhalten ist vom Schutzzweck der hier angesprochenen Schutzgesetze nicht umfasst. Schon bislang war die Rechtsprechung des BGH zum schutzwürdigen Vertrauen des Anspruchstellers nicht ohne Weiteres auf den Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB zu übertragen. Denn die Verletzung von schutzwürdigem Vertrauen zählt gerade nicht zu seinen Anspruchsvoraussetzungen. Nachdem die Inanspruchnahme von Vertrauen keine Anspruchsvoraussetzung mehr ist (Rn. 87), hat sich dieser Ansatz endgültig erübrigt. War der Verstoß des öffentlichen Auftraggebers allerdings für den Anspruchsteller erkennbar, kann der Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB wegen Mitverschuldens nach § 254 BGB gemindert sein oder ganz entfallen. Bei § 823 Abs. 2 BGB ist Verschulden auf Seiten des Anspruchsgegners Anspruchsvoraussetzung und daher vom Anspruchsteller vollumfänglich darzulegen und zu beweisen. Ist der Vergaberechtsverstoß durch Mitarbeiter oder sonstige Hilfspersonen gekommen, die der öffentliche Auftraggeber bei der jeweiligen Auftragsvergabe eingesetzt hat, kann er sich nach § 831 BGB entlasten. Hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wird auf die Ausführungen in Rn.  106 f. verwiesen.