Die Bedeutung des Art. 3 Abs. 1 GG beschränkt sich jedoch nicht allein auf die unmittelbaren Vorgaben für die Gestaltung von Vergabekriterien und -verfahren. In Verbindung mit den Grundsätzen über die Selbstbindung der Verwaltung kann der Gleichheitssatz zu einer Selbstbindung des Auftraggebers an die tatsächliche Vergabepraxis führen. Wendet die Verwaltung eine gleichmäßige Verwaltungspraxis ständig an, wird sie daran gebunden und darf in gleichgelagerten Fällen nicht ohne sachlichen Grund davon abweichen.1Vgl. BVerwGE 75, 86 (93); 57, 174 (182); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 21; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 40, Rn. 105 ff., 215 ff. Diese Grundsätze überträgt die herrschende Meinung auf das Vergaberecht. So stellte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Vergaberechtsschutz fest, dass jeder Bieter „eine faire Chance erhalten [muss], nach Maßgabe der für den spezifischen Auftrag wesentlichen Kriterien und des vorgesehen Verfahrens berücksichtigt zu werden. Eine Abweichung von solchen Vorgaben kann eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG bedeuten. Insofern verfügt jeder Mitbewerber über ein subjektives Recht.“2BVerfGE 116, 135 (154).
Über den Hebel des Art. 3 Abs. 1 GG können die Vergabeordnungen, die unterhalb der Schwellenwerte nur den Rang von Verwaltungsvorschriften haben, durch ständige und gleichmäßige Anwendung in der Vergabepraxis zu einer Selbstbindung des Auftraggebers führen und Außenwirkung erlangen.3Vgl. BVerfG, Beschluss v. 13.6.2006 – 1 BVR 1160/03, Rn. 65; OLG Brandenburg, Beschluss v. 2.10.2008 – 12 U 91/08; Braun, NZBau 2008, 160 (161); Bungenberg, Wettbewerb der Systeme, 222 f.; Dörr, DÖV 2001, 1014 (1020); Kallerhoff, NZBau 2008, 97 (101); Krohn, NZBau 2007, 493 (496); Pietzcker, Zweiteilung des Vergaberechts, 87; Puhl, in: VVDStRL 60 (2001), 456 (478); Pünder, VerwArch 95 (2004), 38 (56); F. Wollenschläger, DVBl. 2007, 589 (597). Kritisch Pollmann, Gleichbehandlungsgrundsatz, 145 ff. Eine Bindung kann dabei auch an eigene Vergabebedingungen unabhängig von den Vergabeordnungen entstehen.4Scharen, in: Willenbruch/Wieddekind, § 126 GWB, Rn. 71; F. Wollenschläger, DVBl. 2007, 589 (597). Voraussetzung ist jedoch, dass diese Abweichungen nicht rechtswidrig sind,5Boesen, Vergaberecht, Einleitung, Rn. 93. da Art. 3 Abs. 1 GG „keine Gleichheit im Unrecht“ gewährt6Vgl. F. Wollenschläger, Verteilungsverfahren, 41..
Umstritten ist jedoch, wie weit der gleichheitsrechtliche Anspruch auf Beachtung des Verteilungsprogramms reicht. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob sich unterlegene Bieter auf jeden Verstoß gegen eine außenwirksame Verwaltungsvorschrift oder Verwaltungspraxis berufen können oder ob dies nur möglich ist, sofern die Verwaltungsvorschrift oder Verwaltungspraxis auch individualschützenden Charakter besitzt. Eine vollständige Subjektivierung hätte zur Folge, dass Bieter auch reine Ordnungsvorschriften geltend machen könnten.
Im Anwendungsbereich des GWB beschränkt sich der Anspruch der Unternehmen jedoch auf die Einhaltung von Vorschriften, die bieterschützenden Charakter aufweisen (vgl. § 97 Abs. 6 GWB). Insofern führt diese Ansicht zu dem fragwürdigen Ergebnis, dass außerhalb des GWB-Vergaberechts weitreichendere subjektive Rechte bestünden.7So Martlreiter, Primärrechtsschutz bei Unterschwellenaufträgen, 122 f.; Kallerhoff, NZBau 2008, 97 (102). Über den Hebel des Art. 3 Abs. 1 GG würde zudem ein genereller Gesetzbefolgungsanspruch geschaffen, der die Trennung zwischen einfachem Recht und Verfassungsrecht aufhebt.8F. Wollenschläger, Verteilungsverfahren, 42. Vorzugswürdig ist daher die Auffassung, die Unterlassungsansprüche außerhalb des GWB wegen der Scharnierwirkung des Art. 3 Abs. 1 GG nur auf solche Verstöße begrenzt, durch die ein Bieter gleichheitswidrig benachteiligt wird.9Vgl. OVG Münster, Beschluss v. 4.5.2006 – 15 B 692/06, NZBau 2006, 531; OLG Jena, Urteil v. 8.12.2008 – 9 U 431/08, VergabeR 2009, 525 (526); Braun, SächsVBl. 2006, 249 (254); Englisch, VerwArch 98 (2007), 410 (420 f.); Gers-Grapperhaus, Auswahlrechtsverhältnis, 196; Himmelmann, VergabeR 2007, 342 (350 f.); Scharen, VergabeR 2011, 653 (657); F. Wollenschläger, Verteilungsverfahren, 42 f. Es kommt somit darauf an, ob die betroffene Vergabevorschrift oder Vergabepraxis vor typischen gleichheitsrechtlichen Gefährdungslagen schützt.10Vgl. Englisch, VerwArch 98 (2007), 410 (421). Wie bereits oben herausgearbeitet, schützt Art. 3 Abs. 1 GG die chancengleiche Teilnahme von Unternehmen am Vergabeverfahren.11Vgl. oben unter A.II.d)bb). Bei der Missachtung materieller Vergabekriterien dürfte regelmäßig eine gleichheitswidrige Benachteiligung vorliegen, da sie den sachlichen Grund für die Ungleichbehandlung zwischen den erfolgreichen und abgelehnten Bewerbern konkretisieren.12F. Wollenschläger, Verteilungsverfahren, 42 f. Für Verfahrensverstöße gilt dies nicht in gleichem Maße. Verfahrensfehler betreffen nicht zwangsläufig die Chancengleichheit potentieller Auftragnehmer. Insoweit muss im Einzelfall geprüft werden, inwieweit eine verfahrensrechtliche Vorgabe der Realisierung eines chancengleichen Verteilungsverfahrens dient und ihr individualschützender Charakter zukommt.13Krohn, NZBau 2007, 493 (496); F. Wollenschläger, Verteilungsverfahren, 43.