Archiv  GWB-Kommentar - 1. Auflage  Kommentar zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)  Teil 4 Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Konzessionen  §§ 97–154 Kapitel 1 Vergabeverfahren  §§ 115–135 Abschnitt 2 Vergabe von öffentlichen Aufträgen durch öffentliche Auftraggeber  §§ 119–135 Unterabschnitt 2 Vergabeverfahren und Auftragsausführung  § 132 Auftragsänderungen während der Vertragslaufzeit  B. Wesentliche Auftragsänderungen (Abs. 1) 

Zeitschrift:
GWB-Kommentar
Herausgeber:
Malte Müller-Wrede
Autoren:
Benjamin Baron von Engelhardt/Hendrik Kaelble
Thema:
Vergabe

I. Wesentliche Auftragsänderungen (S. 1 und S. 2)

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§ 132 Abs. 1 S. 1 GWB normiert den Grundsatz, dass wesentliche Änderungen eines öffentlichen Auftrags während der Vertragslaufzeit neu vergeben werden müssen. Eine Änderung des Auftrags ist dabei jede Änderung des vertraglichen Schuldverhältnisses zwischen Auftraggeber und Auftraggeber. Sie erfolgt ihrerseits durch Vertrag (§ 311 Abs. 1 BGB). Die Art des Änderungsvertrages oder seine Form sind dabei ebenso wenig relevant wie beim Begriff des öffentlichen Auftrags. Er kann auch ein Vergleichsvertrag im Sinne des § 779 BGB1BGH, Beschluss v. 8.2.2011 – X ZB 4∕10 (Abellio); OLG Düsseldorf, Beschluss v. 21.7.2010 – VII-Verg 19∕10. oder ein öffentlich-rechtlicher Vertrag sein.

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§ 132 Abs. 1 S. 2 GWB konkretisiert, was eine wesentliche Auftragsänderung sein soll: eine Änderung, die zu einem erheblichen Unterschied zum ursprünglichen Auftrag führt. Dies dürfte in der Sache der bisherigen Rechtsprechung entsprechen, nach der eine Auftragsänderung als öffentlicher Auftrag anzusehen ist, wenn sie bei wirtschaftlicher Betrachtung einer Neuvergabe gleichkommt. Hiervon war auszugehen, wenn wesentliche Vertragsinhalte geändert werden.2Vgl. etwa OLG Düsseldorf, Beschluss v. 12.1.2004 – Verg 71∕03; Beschluss v. 20.6.2001 – Verg 3∕01; OLG Rostock, Beschluss v. 5.2.2003 – 17 Verg 14∕02; zum Ganzen eingehend Poschmann, Auftragsänderungen, Teil 2; Knauff, NZBau 2007, 347 (349).

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Ob die Änderung wesentlich ist, ist durch eine wirtschaftliche Gesamtbetrachtung der Rechte und Pflichten der Vertragspartner festzustellen. Dabei kommt es nicht auf den einzelnen Vertrag in einem technischen Sinne an. Maßstab ist vielmehr der ursprünglich vergebene öffentliche Auftrag. Dabei kann auch ein ganzes Vertragskonvolut wie etwa bei ÖPP üblich in die wirtschaftliche Gesamtbetrachtung einzubeziehen sein.3Vgl. bereits vor § 132 GWB: OLG Düsseldorf, Beschluss v. 20.6.2001 – Verg 3∕01.

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Wesentliche Vertragsinhalte werden regelmäßig die essentialia negotii, mithin der Preis, Art und Umfang der Leistung des Auftragnehmers und die Laufzeit des Vertrages sein.4Vgl. bereits vor § 132 GWB: OLG Frankfurt, Beschluss v. 30.8.2011 – 11 Verg 3∕11; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 12.1.2004 – Verg 71∕03; Beschluss v. 20.6.2001 – Verg 3∕01; Beschluss v. 14.2.2001 – Verg 13∕00; OLG Rostock, Beschluss v. 5.2.2003 – 17 Verg 14∕02; VK Brandenburg, Beschluss v. 17.6.2008 – VK 13∕08. Laut Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung sind insbesondere Änderungen erfasst, die „den Umfang und die Ausgestaltung der gegenseitigen Rechte und Pflichten der Parteien“ betreffen.5Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18∕6281, 147 (zu § 132 Abs. 1 GWB).

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Dies soll nach dem Willen der Bundesregierung laut Entwurfsbegründung ausdrücklich auch die Zuweisung von Rechten des geistigen Eigentums beinhalten.6Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18∕6281, 147 (zu § 132 Abs. 1 GWB). Denn die Zuweisung der Rechte des geistigen Eigentums ist regelmäßig wesentlich für die wirtschaftliche Architektur des Vertrages und die Frage, wofür in welcher Höhe vergütet wird.

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Nicht unproblematisch ist die Abgrenzung wesentlicher von unwesentlichen Änderungen bei Verträgen, die typischerweise eine recht weitreichende Flexibilität für Anpassungen des Leistungsspektrums vorsehen. Bauverträge sind solche Fälle wegen der mit einem Bauvorhaben verbundenen Unwägbarkeiten7Vgl. etwa BGH, Urteil v. 22.7.2010 – VII ZR 213∕08; VK Nordbayern, Beschluss v. 20.6.2012 – 21.VK-3194-08∕12; VK Südbayern, Beschluss v. 30.5.2007 – Z3-3-3194-1-15-04∕07. und langfristige Verträge der Daseinsvorsorge, insbesondere Universalverträge, zum Beispiel aus dem Abfall8Vgl. etwa OLG München, Beschluss v. 6.8.2012 – Verg 14∕12; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 25.4.2012 – VII-Verg 107∕11; Beschluss v. 28.7.2011 – VII-Verg 20∕11; OLG Celle, Beschluss v. 29.10.2009 – 13 Verg 8∕09; VK Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 5.7.2013 – VK 1-11∕13; VK Arnsberg, Beschluss v. 2.2.2011 – VK 27∕10; VK Brandenburg, Beschluss v. 12.2.2010 – VK 3∕10. oder Verkehrsbereich,9Vgl. etwa OLG Rostock, Beschluss v. 25.9.2013 – 17 Verg 3∕13; VK Münster, Beschluss v. 18.3.2010 – VK 1∕10. der Wasserversorgung10Vgl. etwa OLG Frankfurt, Beschluss v. 30.8.2011 – 11 Verg 3∕11. oder betreffend Rettungsdienstleistungen.11Vgl. etwa EuGH, Urteil v. 29.4.2010 – Rs. C-160∕08, Rn. 98 ff.; OLG Schleswig, Beschluss v. 4.11.2014 – 1 Verg 1∕14. Gleichwohl gelten auch für diese Fälle die allgemeinen Regeln des § 132 GWB. Sind zum Beispiel Flexibilitäten von Anfang an in den Vergabeunterlagen vorgesehen, so kann § 132 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 GWB einschlägig sein, bei unvorhersehbaren Umständen § 132 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 GWB. Aus der VOB∕B lassen sich dabei nur zivilrechtliche Maßstäbe, nicht aber die auch vergaberechtlich ohne Neuvergabe zulässigen Änderungen ablesen.

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In diesem Sinne an § 132 GWB zu messen sind Verschiebungen von Bauzeiten, zum Beispiel infolge von Verzögerungen durch ein Nachprüfungsverfahren. Die Folge können Änderungen der vereinbarten Fertigstellungstermine, unter Umständen auch Anpassungen des Preises sein. Hierin sieht der BGH in der Regel keine wesentliche Änderung gemessen an den Kriterien des § 132 Abs. 1 S. 3 GWB: Insbesondere bleibe das wirtschaftliche Gleichgewicht unberührt. Ob sich andere Unternehmen um den Auftrag beworben hätten, müsse nicht weiter untersucht werden, denn das Nachprüfungsverfahren diene dem Schutz des Wettbewerbs und könne daher nicht als Ursache einer Wettbewerbsverzerrung gelten.12Vgl. BGH, Urteil v. 22.7.2010 – VII ZR 213∕08.

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Die Darlegungslast für die Wesentlichkeit∕Unwesentlichkeit der Änderung liegt bei jenem, der sich auf sie zwecks Verzicht auf Neuvergabe beruft. Dies folgt zum einen aus dem Schutz des Vergabewettbewerbs, dem § 132 GWB dient. Der materielle Grundsatz, dass wettbewerbsverzerrende Änderungen zur Neuvergabe führen, muss sich auf die Darlegungslast durchschlagen. Zum anderen ergibt sich dies aus europarechtskonformer Auslegung im Lichte des Art. 72 Abs. 1 lit. e RL 2014∕24∕EU. In diesem heißt es, dass auf eine Neuvergabe verzichtet werden kann, wenn die Änderung nicht wesentlich ist. Diese doppelte Negation (Verzicht auf Neuvergabe bei unwesentlicher Änderung) statt der positiv gewendeten Formulierung in § 132 GWB (wesentliche Änderung erfordert Neuvergabe) regelt eine Darlegungslast bei demjenigen, der sich auf den Verzicht auf Neuvergabe beruft.