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Werk:
Einführung in die öffentliche Beschaffung
Autor:
Hermann Summa
Thema:
Vergabe

Rechtsschutz in Vergabeverfahren

Hermann Summa

1. Überblick

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Beim Rechtsschutz im Zusammenhang mit einem Vergabeverfahren ist zwischen Primärrechtsschutz und Sekundärrechtsschutz zu unterscheiden.

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Primärrechtsschutz dient dem Zweck, einem an einen Auftrag interessierten Unternehmen die Möglichkeit zu geben, mit Hilfe eines Gerichts oder einer anderen (gerichtsähnlichen) Institution direkten Einfluss auf das Vergabeverfahren zu nehmen. Auf diesem Wege kann der Auftraggeber gezwungen werden, etwas zu tun oder zu unterlassen, bevor der Auftrag wirksam vergeben wird.

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Ziel des Sekundärrechtsschutzes ist nicht die Einflussnahme auf das Vergabeverfahren, sondern der Ausgleich geldwerter Nachteile, die einem Unternehmen durch ein vergaberechtswidriges Tun oder Unterlassen des öffentlichen Auftraggebers in einem abgeschlossenen Vergabeverfahren entstanden sind.

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Für Vergabeverfahren, auf die der Vierte Teil des GWB anwendbar ist (Schwellenwertvergaben), hat der Gesetzgeber ein vergabespezifisches Nachprüfungsverfahren mit einer gerichtsähnlichen Vergabekammer als Eingangsinstanz und einem Vergabesenat beim Oberlandesgericht als einzige Gerichtsinstanz geschaffen.

Wenn keine der in den zahlreichen Paragraphen1§§ 107, 115, 116, 117, 136, 137, 138, 139, 144, 145 GWB normierten Bereichsausnahmen vorliegt, unterliegen alle Verfahren zur Vergabe von Aufträgen aller Art (einschließlich Bau- und Dienstleistungskonzessionen), deren Wert den jeweils einschlägigen Schwellenwert (§ 106 GWB) erreicht, der Nachprüfung im Verfahren nach §§ 160 f. GWB.

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Bei alle anderen Vergabeverfahren kann Primärrechtsschutz durch einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung nach den §§ 935 f. ZPO angestrebt werden. Zuständig ist eine Zivilkammer eines Landgerichts.

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In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gibt es auch für Unterschwellenvergaben einen vergabespezifischen „Primärrechtsschutz light“.

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Über Schadensersatzansprüche entscheiden unabhängig vom Auftragswert die Zivilgerichte. Dies gilt auch für den nur bei Schwellenwertvergaben in Betracht kommenden Schadensersatzanspruch aus § 126 GWB.

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Eine Besonderheit gibt es in Verfahren zur Vergabe von Planungsleistungen. Verlangt der öffentliche Auftraggeber außerhalb von Planungswettbewerben die Ausarbeitung von Lösungsvorschlägen für die gestellte Planungsaufgabe in Form von Entwürfen, Plänen, Zeichnungen, Berechnungen oder anderen Unterlagen, so ist einheitlich für alle Bewerber eine angemessene Vergütung festzusetzen (§ 77 Abs. 2 VgV). Die Festsetzung einer unangemessen niedrigen Vergütung ist ein Vergaberechtsverstoß, der im Wege der Rüge und notfalls mit einem Nachprüfungsantrag beanstandet werden kann. Unterlässt es ein Planer, mit einem Nachprüfungsantrag entweder eine höhere Vergütung geltend zu machen oder eine Anpassung der Anforderungen an den Lösungsvorschlag an die vom Auftraggeber angebotene Vergütung zu verlangen, ist eine spätere Honorarklage vor einem Zivilgericht aussichtslos.2BGH, Urteil v. 19.04.2016 - X ZR 77/14 - juris

2. Primärrechtschutz bei Schwellenwertvergaben

2.1 Grundsätze

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Unternehmen, die an einem öffentlichen Auftrag interessiert sind, haben einen subjektiven und damit „einklagbaren“ Anspruch auf Einhaltung der Spielregeln für das Vergabeverfahren (§ 97 Abs. 6 GWB) Zur Durchsetzung dieses Anspruch stellt ihnen der Gesetzgeber in den §§ 160 f. GWB einen vergabespezifischen Primärrechtsschutz zur Verfügung.

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Weil es nicht um eine allgemeine Kontrolle des Verwaltungshandelns, sondern um die Durchsetzung subjektiver Ansprüche geht, wird ein Nachprüfungsverfahren nach §§ 160 f. GWB nur auf Antrag eingeleitet. Zudem hat der Gesetzgeber in den §§ 160, 161 GWB einige Hürden aufgebaut, die ein Antragsteller nehmen muss, damit der Nachprüfungsantrag überhaupt zulässig ist.

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§ 160 Abs. 2 GWB regelt die Antragsbefugnis und normiert zugleich Anforderungen an die Antragsbegründung (die in § 161 Abs. 2 GWB ergänzt werden). § 160 Abs. 3 GWB bestimmt die Voraussetzungen, unter denen ein formal und inhaltlich ordnungsgemäßer Antrag (ganz oder teilweise) wegen Rügepräklusion (Nrn. 1-3) oder Fristversäumung (Nr. 4) unzulässig ist.

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Ein Nachprüfungsantrag kann in jeder Lage des Verfahrens sowohl erweitert als auch ganz oder teilweise zurückgenommen werden. Einer nachträglichen Erweiterung kann aber die Rügepräklusion entgegenstehen.

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Eingangsinstanz ist eine Vergabekammer; deren Entscheidung ist mit einer sofortigen Beschwerde zu einem bei einem Oberlandesgericht eingerichteten Vergabesenat anfechtbar.

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Ziel eines Nachprüfungsantrags kann grundsätzlich nur eine Einflussnahme auf ein bestimmtes Vergabeverfahren sein (§ 156 Abs. 2 GWB), das im Zeitpunkt der Antragstellung schon begonnen haben muss und noch nicht wirksam beendet sein darf.

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Nicht notwendig – aber selbstverständlich ausreichend – ist die Einleitung eines förmlichen Vergabeverfahrens etwa durch Bekanntmachung einer beabsichtigten Auftragsvergabe. Es genügt, dass der zur Beschaffung einer bestimmten Ware oder Leistung entschlossene Auftraggeber nach außen Aktivitäten entfaltet, die zum Ziel haben, einen entsprechenden Vertrag zu schließen. Auch insoweit gilt, dass interne Prozesse der Willensbildung nicht angreifbar sind. Erst wenn der Auftraggeber den internen Entscheidungsprozess abgeschlossen hat und z.B. durch Aufnahme von Gesprächen mit Unternehmen damit beginnt, seine Entscheidung, einen Auftrag ohne förmliches Vergabeverfahren direkt zu vergeben, in die Tat umzusetzen, liegt ein nachprüfbares Vergabeverfahren vor.

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Auch die Aufhebung einer Ausschreibung kann zur Nachprüfung gestellt werden.3BGH, Beschluss v.18.02.2003 - X ZB 43/02 - VergabeR 2003,313 Allerdings sind insoweit die Erfolgsaussichten eher gering, weil das geltende Recht keinen Kontrahierungszwang kennt (vgl. § 63 Abs. 1 Satz 2 VgV). Auch wenn keiner der geschriebenen Aufhebungsgründe vorliegt, kann eine Aufhebung zwar rechtswidrig, aber trotzdem wirksam sein mit der Folge, dass der Auftraggeber möglicherweise schadensersatzpflichtig ist, ein Unternehmen aber keinen Anspruch auf Fortsetzung des Vergabeverfahrens hat. Der Auftraggeber darf ein Vergabeverfahren auch dann abbrechen, wenn er den Aufhebungsgrund selbst zu verantworten hat.4EuGH, Urteil v. 16.10.2003 - C-244/02 - VergabeR 2004, 592

Praxistipp

Ein auf Fortsetzung des Vergabeverfahrens gerichteter Nachprüfungsantrag hat nur Erfolg, wenn der Antragsteller die Vergabekammer oder den Vergabesenat davon überzeugen kann, dass die Aufhebung lediglich dem Zweck dient, eine unerwünschte Auftragsvergabe an ihn zu vermeiden und/oder einem erwünschten Vertragspartner, der im laufenden Verfahren keine Chance gehabt hätte, in einem neuen Verfahren den Auftrag zukommen zu lassen (Scheinaufhebung).

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Im Verfahren vor der Vergabekammer besteht kein Anwaltszwang. Selbstverständlich hat aber jeder Verfahrensbeteiligte das Recht, anwaltliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Auftraggeber riskiert allerdings, die Anwaltskosten auch dann selbst tragen zu müssen, wenn das Nachprüfungsverfahren zu seinen Gunsten ausgeht. Im Verfahren vor der Vergabekammer sind die Anwaltskosten des obsiegenden Beteiligten nur dann vom Gegner zu erstatten, wenn die Vergabekammer (oder der Vergabesenat im Beschwerdeverfahren) die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für notwendig erklärt hat (§ 182 Abs. 4 Satz 4 GWB in Verbindung mit § 80 Abs. 2 VwVfG bzw. der entsprechenden landesrechtlichen Vorschrift).

Gute Chancen haben insoweit Gelegenheitsauftraggeber nach § 99 Nr. 4 GWB. Bei staatlichen oder staatsnahen Auftraggebern, die regelmäßig öffentliche Aufträge vergeben, ist zu unterscheiden:

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Von Mitarbeitern eines Auftraggebers, der Aufträge jenseits der Schwellenwerte vergibt, kann erwartet werden, dass ihnen die nationalen Regelungswerke bekannt sind, die mit einer Auftragsvergabe verbundenen Rechtsfragen auch schwierigerer Art beantworten können sowie in der Lage sind, ihren bereits vor Einleitung des Nachprüfungsverfahrens eingenommenen Standpunkt vor der Vergabekammer zu verteidigen.5OLG Celle, Beschluss v. 9.2.2011 - 13 Verg 17/10 - VergabeR 2011, 646

Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten kann notwendig sein, wenn Regelungen des Unionsrechts und/oder Entscheidungen des EuGH eine Rolle spielen6OLG Düsseldorf, Beschluss v. 7.1.2004 - Verg 55/02 - VergabeR 2004, 266, zahlreiche eher schwierige Rechtsfragen anzusprechen sind7BayObLG, Beschluss v.  19.9.2003 - Verg 11/03 - VergabeR 2004, 259 oder (auch) über ungeklärte Fragen des Verfahrensrechts gestritten wird.8OLG Düsseldorf, Beschluss. v. 28.2.2002 - Verg 37/01 - VergabeR 2002, 378

Praxistipp

Erstattungsfähig sind nur die notwendigen Auslagen. Dies sind nur die Anwaltskosten, die sich aus dem RVG ergeben, nicht aber höhere Kosten aufgrund einer Honorarvereinbarung. Reisekosten, Tage- und Abwesenheitsgelder eines auswärtigen Rechtsanwalts sind nur dann erstattungsfähig, wenn gerade die Zuziehung dieses Anwalts notwendig war. Wenn beispielsweise ein Auftraggeber mit Sitz im Rheinland die Dienste eines Anwalts aus Berlin in Anspruch nimmt, obwohl es im Raum Köln-Düsseldorf genügend für das Vergaberecht qualifizierte Anwälte gibt, riskiert er, dass er auch dann auf einem Teil der Kosten sitzen bleibt, wenn er gewinnt.

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Im Beschwerdeverfahren muss sich grundsätzlich jeder Verfahrensbeteiligte von einem Rechtsanwalt vertreten lassen, der in Deutschland zur Rechtsanwaltschaft zugelassen ist (§ 175 Abs. 1 Satz 1 GWB, § 4 BRAO). Die Vertretung durch Syndikusanwälte ist grundsätzlich unzulässig (§ 46c Abs. 2 Nr. 1 BRAO). Allerdings besteht seit Anfang 2016 die Möglichkeit einer Doppelzulassung als Syndikusanwalt (§ 46a BRAO) und freiberuflicher Rechtsanwalt (§ 12 BRAO). Mit einer Zulassung nach § 12 BRAO kann ein Rechtsanwalt auch seinen Arbeitgeber vor Gericht vertreten.

Eine Ausnahme vom Anwaltszwang besteht für juristische Personen des öffentlichen Rechts. Sie können auch von einem Mitarbeiter vertreten werden, der die Voraussetzungen des § 5 DRiG erfüllt, also „Volljurist“ ist (§ 175 Abs. 1 Satz 2 GWB).

2.2 Nachprüfungsantrag zur Vergabekammer

2.2.1 Antragsfrist

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Der Nachprüfungsantrag ist grundsätzlich nicht fristgebunden. Grund zur Eile hat ein Unternehmen aber dann, wenn sich das Vergabeverfahren dem Ende zuneigt. Ein wirksam erteilter Zuschlag beendet das Vergabeverfahren und damit die Möglichkeit der Nachprüfung. Ein sich benachteiligt fühlendes Unternehmen muss also seinen Nachprüfungsantrag so rechtzeitig einreichen, dass noch eine das Zuschlagsverbot auslösende Bekanntgabe (§ 169 Abs. 1 GWB) bewirkt werden kann.

Ein Unternehmen muss auch nicht abwarten, bis der Auftraggeber auf eine Rüge geantwortet hat. Die Zulässigkeit eines Nachprüfungsantrags setzt somit nicht voraus, dass der Antragsteller dem Auftraggeber ausreichend Zeit gegeben hatte, auf eine Rüge zu reagieren. Ein vorschneller Antragsteller riskiert aber, dass sich das Nachprüfungsverfahren durch eine Abhilfe des Auftraggebers erledigt und er dann gemäß §182 Abs. 3 Satz 4, Abs. 4 Satz 3 GWB die Verfahrenskosten und notwendigen Auslagen des Auftraggebers tragen muss. Steht der Zuschlag praktisch vor der Tür, muss das Unternehmen dieses Risiko allerdings eingehen.

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Eine Antragfrist kann sich aber aus § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 GWB ergeben. Nach dem nationalen Recht müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein:

  • Ein Bieter oder Bewerber muss eine Beanstandung erhoben haben, die die Bezeichnung „Rüge“ verdient.

  • Der Auftraggeber muss unmissverständlich zum Ausdruck gebracht haben, dass er überhaupt nicht daran denkt, auf die Rüge irgendetwas zu ändern.

Außerdem muss der Auftraggeber bereits in der Bekanntmachung entweder über die Frist des § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 GWB belehren oder eine Stelle benennen, bei der Auskünfte über die Einlegung von Rechtsbehelfen erhältlich sind.9OLG Brandenburg, Beschluss v. 13.09.2011 - Verg W 10/11 - VergabeR 2012, 242

Für die Mitteilung des Auftraggebers, er helfe einer Rüge nicht ab, ist keine bestimmte Form vorgeschrieben. Rechtlich reicht also auch ein Telefonanruf aus.

Für den Auftraggeber hat § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 GWB Vor- und Nachteile. Einerseits kann die Regelung dazu führen, dass umstrittene Fragen bereits in einem frühen Stadium des Vergabeverfahrens geklärt und somit Verzögerungen zumindest begrenzt werden. Andererseits besteht die Gefahr voreiliger Nachprüfungsanträge. Rügt ein Unternehmen z.B. Mängel der Bekanntmachung und teilt ihm die Vergabestelle sofort mit, sie helfe nicht ab, muss es alsbald einen Nachprüfungsantrag stellen, der sich später aus vielerlei Gründen als überflüssig herausstellen kann.

Der Auftraggeber hat es allerdings in der Hand, den Gang der Dinge zu beeinflussen. Er ist nicht gezwungen, jede Rüge sofort zu bearbeiten. § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 GWB stellt es ihm frei, ob und wann er Rügen zurückweist.

Praxistipp

Auftraggeber können auf den Zeitpunkt der möglichen Stellung von Nachprüfungsanträgen Einfluss nehmen, indem sie Rügen sammeln, den weiteren Verlauf des Verfahrens beobachten (Wer gibt überhaupt ein Angebot ab? Sind die Angebote der Rügenden überhaupt wertbar?) und Nichtabhilfebescheide erst dann versenden, wenn das Risiko am geringsten zu sein scheint.

2.2.2 Antragsgegner

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Antragsgegner ist immer der Auftraggeber im Sinne des §98 GWB, nicht etwa eine für ihn auftretende (zentrale) Vergabestelle oder ein anderer (rechtsgeschäftlicher) Vertreter. Auch wenn in der Bekanntmachung oder in den Vergabeunterlagen z.B. ein Eigenbetrieb als Auftraggeber bezeichnet ist, muss sich der Nachprüfungsantrag gegen die Kommune richten.

Eine Besonderheit gibt es bei der Bundesauftragsverwaltung (Art. 90 Abs. 2 GG) Ein Land wird dabei zwar für den Bund tätig, allerdings nach außen aus eigener und selbstständiger Verwaltungskompetenz und damit in eigenem Namen. Deshalb ist insbesondere im Bundesfernstraßenbau nicht der Bund, sondern immer das ausführende Bundesland der richtige Antragsgegner.

In Berlin gibt es allerdings Pläne, im Fernstraßenbau die Auftragsverwaltung abzuschaffen und die Zuständigkeit auf eine Infrastrukturgesellschaft des Bundes zu übertragen.

2.2.3 Antragsbefugnis

2.2.3.1 Interesse am Auftrag

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Antragsbefugt sind von vorn herein nur natürliche und juristische Personen sowie Bietergemeinschaften, die ein Interesse an einem konkreten Auftrag haben. Gemeint ist damit ein unmittelbares Interesse, d.h. nur potentielle Vertragspartner des Auftraggebers können einen zulässigen Nachprüfungsantrag stellen. Somit kommen z.B. Lieferanten oder Nachunternehmer nicht als Antragsteller in Betracht.

Praxistipp

Faustregel: Antragsbefugt ist, wer sich entweder als Bewerber oder Bieter an dem der (beabsichtigten) Auftragsvergabe vorausgehenden Wettbewerb beteiligt hat oder schlüssig darlegt, gerade durch den behaupteten Verstoß gegen Vorschriften des Vergaberechts an der Teilnahme gehindert gewesen zu sein.

2.2.3.2 Rechtsverletzung

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Der Antragsteller muss einen Verstoß gegen Bestimmungen über das Vergabeverfahren im Sinne des § 97 Abs. 6 GWB geltend machen. Für die Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags genügt eine schlüssige Behauptung. Ob der Rechtsverstoß tatsächlich vorliegt, ist eine Frage der Begründetheit.

Außerdem muss sich aus der Antragsbegründung ergeben, dass der Antragsteller behauptet, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Das Nachprüfungsverfahren dient nicht der allgemeinem Kontrolle des Auftraggebers und auch nicht der Berücksichtigung der Interessen Dritter.

Ein schlüssiger Vortrag setzt nicht voraus, dass der Antragsteller darlegt, positive Kenntnis von den Umständen zu haben, auf die er die Behauptung einer Rechtsverletzung stützt. Akteneinsicht hat ein Antragsteller erst in einem laufenden Vergabeverfahren (§ 165 GWB); vorher ist seine Informationsbasis nicht selten sehr beschränkt. Deshalb darf er vortragen, was er auf der Grundlage seines Informationsstandes redlicher Weise für wahrscheinlich oder möglich halten darf. Ins Blaue hinein aufgestellte Behauptungen reichen allerdings nicht aus. Der Antragsteller muss zumindest tatsächliche Anknüpfungstatsachen vortragen, die seine Behauptung als plausibel erscheinen lassen.10BGH, Beschluss v. 26.09.2006 - X ZB 14/06 - VergabeR 2007, 59

Es reicht aber nicht aus, wenn der Antragsteller nur die abstrakte Möglichkeit einer Rechtsverletzung in den Raum stellt.11OLG Koblenz, Beschluss v. 10.08.2000 - 1 Verg 2/00 - NZBau 2000, 534.

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Die Nichtigkeit (§ 134 BGB) oder Unwirksamkeit (§ 135 GWB) einer Auftragserteilung ist für sich alleine noch keine Verletzung von Rechten des Antragstellers, sondern ein Zustand. Legt ein Antragsteller schlüssig die Nichtigkeit bzw. Unwirksamkeit dar, ist im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrages davon auszugehen, dass das Vergabeverfahren nicht beendet und somit nach der Zugang zum Nachprüfungsverfahren gegeben ist. Darüber hinaus muss der Antrag aber auch die Zulässigkeitsvoraussetzungen der §§ 160, 161 GWB erfüllen.

2.2.3.3 Schaden

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Weitere Voraussetzung für die Bejahung der Antragsbefugnis ist die Darlegung eines (entstandenen oder drohenden) Schadens des Antragstellers als unmittelbare Folge des geltend gemachten Verstoßes gegen das Vergaberecht.

Ein Schaden kann insbesondere bestehen

  • in der Vereitelung oder wesentliche Verschlechterung einer reellen Chance auf Zuschlagserteilung (auch durch unwirksame Aufhebung einer Ausschreibung);

  • in der Vereitelung der Teilnahme am Vergabeverfahren (mit dem Unterfall der Umgehung einer Ausschreibung durch eine Direktvergabe).

Das Erfordernis eines Schadens ist ein Grobfilter, der verhindern soll, dass ein Unternehmen, das auch bei Durchführung eines in jeder Hinsicht rechtmäßigen Vergabeverfahrens keine Chance auf den Zuschlag hätte, die Auftragsvergabe mit einem Nachprüfungsverfahren verzögert.

Der Antragsteller muss deshalb nicht darlegen, dass er bei Durchführung eines in fehlerfreien Verfahrens sehr gute Chancen auf den Zuschlag gehabt hätte oder gar Ausschreibungsgewinner geworden wäre. Umgekehrt reicht es aber nicht aus, dies bloß zu behaupten.

Ein Nachprüfungsantrag ist allerdings unzulässig, wenn sich bereits aus der Antragsbegründung ergibt, dass der Antragsteller selbst bei der von ihm angestrebten Korrektur des Vergabeverfahrens den Zuschlag nicht erhalten dürfte. Liegt der Antragsteller nach Abschluss der Wertung an dritter Stelle und beanstandet er mit seinem Nachprüfungsantrag lediglich, dass der Erstplatzierte nicht wegen fehlender Eignung ausgeschlossen wurde, fehlt es an einem (drohenden) Schaden, weil der Antragsteller bestenfalls auf den zweiten Platz vorrücken könnte. Damit gehörte er aber weiterhin zu den Verlierern.

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Ein Bieter, der ein zu Recht ausgeschlossenes Angebot abgegeben hat, hat in aller Regel keine Chance, den ausgeschriebenen Auftrag zu erhalten. Folglich fehlt es selbst dann, wenn dem Auftraggeber ein Vergaberechtsverstoß unterlaufen sein sollte, grundsätzlich an einem infolge einer Rechtsverletzung drohenden Schaden, dessen Eintritt durch eine Maßnahme (Anordnung) im Sinne des § 168 Abs. 1 Satz 1 GWB zu verhindern wäre.

Er kann aber ausnahmsweise trotzdem antragsbefugt sein, nämlich wenn er schlüssig darlegen kann, dass das Vergabeverfahren überhaupt nicht vergaberechtskonform mit einem Zuschlag abgeschlossen werden kann, etwa weil auch alle anderen Angebote ausgeschlossen werden müssten. Der Antragsteller macht dann einen Anspruch auf eine „zweite Chance“ geltend, die sich daraus ergibt, dass der Auftraggeber entweder das Vergabeverfahren in das Stadium vor Angebotsabgabe zurückversetzen oder nach Aufhebung neu ausschreiben muss mit der Folge, dass alle Bieter – und damit auch der Antragsteller – die Chance haben, sich mit neuen Angeboten zu bewerben.12BGH, Beschluss v. 26.09.2006 - X ZB 14/06 - VergabeR 2007, 59

2.3 Rügerpräklusion

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§ 160 Abs. 3 Satz 1 GWB regelt in drei Alternativen (Nrn. 1 - 3), unter welchen Voraussetzungen ein Nachprüfungsantrag ganz oder teilweise wegen Rügepräklusion unzulässig sein kann. Dies ist der Fall, wenn das antragstellende Unternehmen

  • den geltend gemachten Verstoß gegen Vergabevorschriften vor Einreichen des Nachprüfungsantrags erkannt und gegenüber dem Auftraggeber nicht innerhalb einer Frist von zehn Kalendertagen gerügt hat (Nr.1);

  • Verstöße gegen Vergabevorschriften, die aufgrund der Bekanntmachung erkennbar sind, nicht spätestens bis zum Ablauf der in der Bekanntmachung benannten Frist zur Bewerbung oder zur Angebotsabgabe gegenüber dem Auftraggeber gerügt werden (Nr. 2),

  • Verstöße gegen Vergabevorschriften, die erst in den Vergabeunterlagen erkennbar sind, nicht spätestens bis zum Ablauf der Frist zur Bewerbung oder zur Angebotsabgabe gegenüber dem Auftraggeber gerügt werden (Nr.3).

Die Rügepräklusion erfasst immer nur einen bestimmten Vergaberechtsverstoß. Macht ein Antragsteller mehrere Vergaberechtsverstöße geltend, von denen nur einige präkludiert sind, ist der Nachprüfungsantrag im Übrigen zulässig.

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Für alle Präklusionstatbestände gilt: Nur ein tatsächlich vorliegender Vergaberechtsverstoß kann präkludiert sein. Ohne Vergaberechtsverstoß gibt es keine Rügeobliegenheit und folglich auch keine Rügepräklusion. Hat der Auftraggeber alle Spielregeln des Vergabeverfahrens beachtet, kann ein Nachprüfungsantrag nur unbegründet, nicht aber wegen Rügepräklusion (teilweise) unzulässig sein.

Unterschiede gibt es hinsichtlich der subjektiven Merkmale.

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Nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB setzt die Rügepräklusion voraus, dass ein Bewerber oder Bieter in irgendeinem Stadium des Vergabeverfahrens positive Kenntnis von einem Vergaberechtsverstoß erlangt und diesen nicht binnen 10 Kalendertagen gerügt hat. Eine Kenntnis kann angenommen werden, wenn dem Antragsteller bestimmte Tatsachen bekannt sind, die bei vernünftiger Würdigung einen Mangel des Vergabeverfahrens darstellen, der nach gängiger Praxis13BayObLG, Beschluss v. 21.05.1999 - Verg 1/99 - ZVgR 1999, 111 oder einer Parallelwertung in der Laiensphäre14OLG Stuttgart, Beschluss v. 28.11.2002 - Verg 10/02 - VergabeR 2003, 226 zur Annahme eines Verstoßes gegen Vergabevorschriften führen. Ausreichend ist somit die Kenntnis von einem Sachverhalt, der den Schluss auf einen Vergaberechtsverstoß erlaubt und der es bei vernünftiger Betrachtung als gerechtfertigt erscheinen lässt, das Vergabeverfahren als fehlerhaft zu beanstanden.15OLG Frankfurt, Beschluss v. 07.10.2003 - 11 Verg 7/03 - ZfBR 2004, 293; siehe auch OLG Celle, Beschluss v. 05.07.2007 - 13 Verg 8/07 - ZfBR 2007, 706-709. Mit dem Erkennen eines Verstoßes gegen eine (bieterschützende) Vorschrift des Vergaberechts beginnt die 10-tägige Rügefrist, die nur eingehalten ist, wenn die Rüge dem Auftraggeber fristgerecht zugeht. Fällt das Ende einer Frist auf einen Sonntag, einen allgemeinen Feiertag oder einen Sonnabend, so endet die Frist mit Ablauf des nächsten Werktages.

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Bei den beiden anderen Präklusionstatbeständen reicht es aus, dass die Vergaberechtsverstöße aufgrund der Bekanntmachung bzw. der Vergabeunterlagen erkennbar sind. Wer sich vorwerfen lassen muss, er sei selbst schuld, dass ihm der Fehler nicht bewusst geworden ist, wird verfahrensrechtlich einem Bewerber oder Bieter gleichgestellt, der bewusst von der Erhebung einer Rüge abgesehen hat. Dies kann im Einzelfall dazu führen, dass einem Bewerber oder Bieter der Zugang zum Nachprüfungsverfahren nur deshalb abgeschnitten wird, weil er sich nicht mit der gebotenen Sorgfalt mit der Ausschreibung und ihren Rechtsgrundlagen befasst hat.

Erkennbar sind Vergaberechtsverstöße, die von einem durchschnittlichen Branchenunternehmen bei üblicher Sorgfalt und den üblichen Kenntnissen erkannt werden müssen.16VK Hessen, Beschluss v. 25.07.2003 - 69d VK - 32/2003; VK Nordbayern v. 05.02.2013 - 21.VK-3194-34/12; siehe auch EuGH, Urteil v. 12.03.2015 - C-538/13 – VergabeR 2015, 546Hat der Auftraggeber beispielsweise in der Bekanntmachung hinsichtlich der Zuschlagskriterien auf die Vergabeunterlagen verwiesen, findet sich dort aber nichts, wird man einem Bieter zumindest vorwerfen können, dieser Fehler sei erkennbar gewesen.

Praxistipp

Unternehmen sind zwar nicht verpflichtet, die Auftragsunterlagen auf alle denkbaren Fehler zu durchforsten. Trotzdem sollten sie sich deutlich vor Ablauf der Bewerbungs- oder Angebotsfrist sorgfältig mit diesen Unterlagen befassen und zumindest auf „Standardfehler“ wie den Verstoß gegen das Gebot der produktneutralen Leistungsbeschreibung achten. Wer den Teilnahmeantrag oder das Angebot unter Zeitdruck erstellt und dabei die vom Auftraggeber überlassenen Unterlagen nicht sorgfältig studiert, riskiert, dass er Vergaberechtsverstöße übersieht und ihm in einem späteren Verfahrensstadium zu Recht eine Rügepräklusion entgegengehalten wird.

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Keine Rügeobliegenheit besteht für Vergaberechtsverstöße, die dem Antragsteller erst während eines laufenden Nachprüfungsverfahrens bekannt werden, diese können sofort in das Verfahren eingebracht werden.

Kraft Gesetzes (§ 160 Abs. 3 Satz 2 GWB) ist die Rüge entbehrlich, wenn und soweit die Unwirksamkeit des Vertrages nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB (unzulässige Direktvergabe) geltend gemacht wird. Folge der Rügepräklusion ist der Verlust des Anspruches auf Überprüfung eines bestimmten Tuns oder Unterlassens der Auftraggeber. Dies hat wiederum zur Folge, dass es dem Auftraggeber vergaberechtlich erlaubt ist, das fehlerhafte Verfahren ohne Änderungen fortzusetzen und das säumige Unternehmen sich so behandeln lassen muss, als sei das ohne Erfolg beanstandete Tun oder Unterlassen vergaberechtskonform.

Praxistipp

Wichtig: Die Auswirkungen der Präklusion beschränken sich auf das Verhältnis zwischen dem Auftraggeber und dem säumigen Unternehmen. Eine Rügepräklusion schützt den Auftraggeber nicht vor Beanstandungen durch Dritte.

Hat ein Auftraggeber Fördermittel unter der Bedingung der strikten Beachtung des Vergaberechts erhalten, kann der Fördermittelgeber eine Rückforderung auch auf einen Vergaberechtsverstoß stützen, auf den sich ein am Vergabeverfahren beteiligtes Unternehmen wegen Rügepräklusion nicht mehr berufen könnte.

2.4 Weitere Anforderungen an den Nachprüfungsantrag

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Ergänzend zu § 160 Abs. 2 GWB stellt § 161 GWB weitere Mindestanforderungen auf.

Ein Nachprüfungsantrag muss schriftlich gestellt werden. Eine Unterschrift ist insoweit nützlich, aber nicht unbedingt erforderlich. Es ist auch nicht erforderlich, dass ein Schriftstück eingereicht wird. Vielmehr genügt es auch, wenn auf Veranlassung des Absenders durch den Einsatz technischer Hilfsmittel erst beim Empfänger eine körperliche Urkunde hergestellt wird, deren geistiger Urheber nicht zweifelhaft ist und bei der es sich ersichtlich nicht um einen Entwurf handelt. Das verfahrensrechtliche Schriftformerfordernis wird in der Regel auch bei Übermittlung per Fax oder Computerfax gewahrt. Anders ist es bei einer E-Mail, die erst auf Veranlassung des Empfängers zu einer körperlichen Urkunde wird. Sie genügt deshalb nicht der Schriftform, kann allerdings unter den Voraussetzungen des § 3a VwVfG (Stichwort: elektronische Signatur) eine schriftliche Eingabe ersetzen.

Der Nachprüfungsantrag ist unverzüglich zu begründen. Daraus folgt, dass zunächst ein „nackter“ Nachprüfungsantrag eingereicht und die Begründung nachgereicht werden kann.

Praxistipp

Von der rechtlichen Möglichkeit, einen „nackten“ Nachprüfungsantrag einzureichen, sollte der Antragsteller nur Gebrauch machen, wenn er die Frist des § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 GWB einhalten muss und keine Zeit für eine Begründung bleibt. Weil ohne Begründung eine Prüfung nach § 162 Abs. 2 Satz 1 GWB nicht möglich ist, wird die Vergabekammer den Nachprüfungsantrag zunächst liegen lassen und die Antragsbegründung abwarten. In der Zwischenzeit kann der Auftraggeber von dem Antrag erfahren und nach Ablauf der Wartefrist auch einmal samstags kurz nach Mitternacht den Zuschlag erteilen, um vollendete Tatsachen zu schaffen.

Die Antragsbegründung muss „die Bezeichnung des Antragsgegners, eine Beschreibung der behaupteten Rechtsverletzung mit Sachverhaltsdarstellung und die Bezeichnung der verfügbaren Beweismittel enthalten sowie darlegen, dass die Rüge gegenüber dem Auftraggeber erfolgt ist“. Diese Angaben sind also zwingend; ihr Fehlen führt günstigstenfalls zu Nachfragen der Vergabekammer, oft aber zur Verwerfung des Antrags als unzulässig.

Die Angabe eines bestimmten Begehrens und die Benennung der sonstigen Beteiligten sind in Sollbestimmungen geregelt, deren Missachtung nicht zur Unzulässigkeit führt.

2.5 Zuschlagsverbot

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Entgegen der missverständlichen Überschrift des § 169 GWB muss der Auftraggeber das Vergabeverfahren nicht stoppen, wenn und solange ein Nachprüfungsverfahren anhängig ist. Er darf es vielmehr bis zur Zuschlagsreife fortsetzen. Allerdings darf er nicht mehr den Zuschlag erteilen, wenn er von der Vergabekammer in Textform (§ 126b BGB) über die Existenz eines Nachprüfungsantrags unterrichtet worden ist. Das Zuschlagsverbot setzt also nicht den Zugang oder gar die Zustellung des Nachprüfungsantrags voraus. Es wird in dem Moment in Kraft gesetzt, in dem die Mitteilung der Vergabekammer z.B. per Fax oder E-Mail beim Auftraggeber eingeht. Eine vorausgehende Information durch den Antragsteller hat keine rechtlichen Wirkungen.

Ein unter Missachtung des Zuschlagsverbots geschlossener Vertrag ist nichtig (§ 134 BGB).

2.6 Antrag auf Gestattung des Zuschlags

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Ist sich der Auftraggeber sicher, keinen Fehler gemacht zu haben, und ist die Auftragsvergabe zudem eilbedürftig, kann er die Gestattung des Zuschlags vor Abschluss des Nachprüfungsverfahrens zu beantragen (§ 169 Abs. 2 Satz 1 GWB)

Praxiskommentar

Ein Eilantrag nach § 169 Abs. 2 Satz 1 GWB ist nur sinnvoll, wenn das Vergabeverfahren bis zur Zuschlagsreife gediehen ist und ausschließlich das Zuschlagsverbot nach § 168 Abs. 1 GWB dem Abschluss entgegensteht.

Neben dem Auftraggeber ist auch das Unternehmen antragsberechtigt, das der Auftraggeber in seiner Vorabmitteilung nach § 134 Abs. 1 GWB als Gewinner des Wettbewerbs bezeichnet hat.

Die Vergabekammer kann auf Antrag das Zuschlagsverbot aufheben und damit einen wirksamen Zuschlag trotz der Anhängigkeit des Nachprüfungsverfahrens ermöglichen. Die Erfolgsaussichten eines Eilantrages sind allerdings eher gering. Grund dafür ist, dass das um Nachprüfung ersuchende Unternehmen mit dem Zuschlag seinen Primärrechtsschutz verlöre. Dies kann nur in besonderen Ausnahmefällen gerechtfertigt sein.17OLG Celle, Beschl. v. 31.1.2011 - 13 Verg 21/10 - juris

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Deshalb muss der Auftraggeber ein unabweisbares Bedürfnis für eine sofortige Auftragserteilung darlegen, welches das Interesse des um Nachprüfung ersuchenden Unternehmens an einer vorherigen Durchführung des Nachprüfungsverfahrens deutlich übersteigt. Ein Eilantrag hat Aussicht auf Erfolg, wenn der Auftraggeber in der Antragsbegründung z.B. schlüssig darlegt,

  • dass ein Bauwerk zu einem bestimmten Termin unbedingt fertig sein muss und dessen Fertigstellung selbst bei einer Verschiebung des Zuschlags um wenige Wochen ernsthaft gefährdet wäre;

  • dass ohne sofortigen Zuschlag der Verlust fristgebundener Fördermittel droht und deshalb die Realisierung gefährdet wäre;

  • dass eine durch einen Brand in einem Krankenhaus entstandene Lücke in der medizinischen Versorgung so schnell wie möglich geschlossen werden muss;

  • dass Leistungen beauftragt werden müssen, die für die Durchführung einer termingebundenen Veranstaltung unerlässlich sind;18VK Hessen, Beschl. v. 27.4.2009 - 69d VK 10/2009 - juris

  • aus umwelt- und/oder gesundheitsrechtlichen Gründen Entsorgungsleistungen unaufschiebbar sind;

  • ohne sofortige Auftragsvergabe die öffentliche Sicherheit nicht mehr gewährleistet ist.

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Allein die Verzögerung, die ein Nachprüfungsverfahren üblicherweise mit sich bringt, rechtfertigt nicht die Gestattung des Zuschlags. Der Auftraggeber sollte deshalb bei seiner Zeitplanung zumindest die Durchführung eines Verfahrens vor der Vergabekammer – bis zum Ablauf der Beschwerdefrist also rund acht Wochen – einplanen. Die Stellung eines Eilantrages empfiehlt sich somit meist erst dann, wenn sich abzeichnet, dass das Verfahren vor der Vergabekammer nicht innerhalb der Regelfrist des § 167 Abs. 1 Satz 1 GWB abgeschlossen werden wird.

39

Gibt die Vergabekammer dem Antrag des Auftraggebers statt, wird das Zuschlagsverbot allerdings nicht sofort außer Kraft gesetzt. Der Zuschlag darf frühestens 2 Wochen nach Bekanntgabe der Entscheidung an das die Nachprüfung beantragende Unternehmen erteilt werden. Diese Wartefrist gibt dem Unternehmen, das die Nachprüfung beantragt hat, die Möglichkeit, die Entscheidung der Vergabekammer mit einem Eilantrag zum Beschwerdegericht (§ 169 Abs. 2 Satz 5 GWB) anzufechten.

Ein solcher Antrag hindert den Auftraggeber nicht an der wirksamen Erteilung des Zuschlages, wenn zwei Wochen abgelaufen sind und die Entscheidung des Vergabesenats noch aussteht.

40

Die einen Eilantrag des Auftraggebers ablehnende Entscheidung der Vergabekammer kann nicht mit einer sofortigen Beschwerde (§ 171 GWB) angefochten werden. Vielmehr kann der Auftraggeber einen weiteren, nicht fristgebundenen Eilantrag beim Vergabesenat stellen (§ 169 Abs. 2 Satz 6 GWB).

41

Für das Verfahren vor dem Vergabesenat gelten § 176 Abs. 2 Satz 1 und 2 und Absatz 3 entsprechend (§ 169 Abs. 2 Satz 7 GWB). Das bedeutet, dass es nicht genügt, wenn der Auftraggeber sein Vorbringen aus dem Verfahren vor der Vergabekammer wiederholt (oder ergänzt). Gemäß § 176 Abs. 2 Satz 2 GWB sind die zur Begründung des Antrags vorzutragenden Tatsachen sowie der Grund für die Eilbedürftigkeit mit geeigneten Beweismitteln glaubhaft zu machen. In Frage kommen nur Beweismittel, die vom Vergabesenat ohne weiteres verwendet werden können, also insbesondere eidesstattliche Versicherungen, sonstige Urkunden, Fotos u.Ä. Es hat keinen Sinn, Zeugen zu benennen oder die Einholung von Sachverständigengutachten zu beantragen. Zwar gilt auch im Eilverfahren vor dem Vergabesenat der Untersuchungsgrundsatz. Der greift aber erst, wenn die Gegenseite die vom Auftraggeber vorgetragenen Tatsachen bestreitet und/oder den Beweiswert der von ihm präsentierten Mittel zur Glaubhaftmachung substantiiert in Zweifel zieht.

2.7 Verteidigung gegen einen Nachprüfungsantrag

2.7.1 Vornewegverteidigung

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Bevor die Vergabekammer durch eine Benachrichtigung des Auftraggebers vom Eingang des Nachprüfungsantrags das Zuschlagsverbot in Kraft setzt (§ 169 Abs. 1 GWB), muss sie prüfen, ob der Nachprüfungsantrag offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist (§ 163 Abs. 2 Satz 1 GWB). Darauf kann der Auftraggeber Einfluss nehmen. Wenn er einen Nachprüfungsantrag eines bestimmten Unternehmens mit einer bestimmten Zielrichtung erwartet, kann er vorsorglich bei der Vergabekammer eine Schutzschrift einreichen, in der er zu den erwarteten Beanstandungen Stellung nimmt (§ 163 Abs. 2 Satz 2 GWB). Darin kann er beispielsweise darlegen, dass der potentielle Antragsteller in der Wertung so weit hinten liegt, dass er selbst dann keine Chance auf den Auftrag hätte, wenn es zu dem von ihm angestrebten Ausschluss des Erstplatzierten käme. Die Vergabekammer muss die Schutzschrift bei ihrer Prüfung berücksichtigen. Deren rechtzeitige Einreichung kann also Verzögerungen bei der Auftragsvergabe verhindern.

2.7.2 Vergabeakte

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Nach wie vor ist eine ordnungsgemäß geführte Vergabeakte das beste Verteidigungsmittel. Spätestens nach Eingang der Information über die Existenz eines Nachprüfungsantrags sollte der Auftraggeber die Vergabeakte oder deren im Hause verbliebenen Kopien auf mögliche Mängel und Lücken durchsehen. Eine nachträgliche Berichtigung und Ergänzung ist grundsätzlich zulässig.19BGH, Beschluss v. 8.2.2011 - X ZB 4/10 - VergabeR 2011, 452

2.7.3 Fehlerkorrektur

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Der Auftraggeber ist in jeder Lage des Verfahrens, also auch nach Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens, berechtigt, Vergaberechtsverstöße zu beheben und damit für eine vergaberechtskonforme Fortsetzung des Vergabeverfahrens zu sorgen. Das gilt auch für Vergaberechtsverstöße, die der Antragsteller beanstandet hat und deren Behebung dem Nachprüfungsantrag die Grundlage entziehen würde. Das Eingestehen eines Fehlers ist kein Zeichen von Schwäche, sondern eine Maßnahme, die auch den Interessen des Auftraggebers dient. Er muss dann zwar in der Regel die Kosten des Nachprüfungsverfahrens tragen. Diese Kosten können aber niedriger sein als die, die durch eine weitere Verzögerung der Auftragsvergabe entstünden.

2.8 Akteneinsicht

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Einer der heikelsten Punkte eines Nachprüfungsverfahrens ist die Akteneinsicht. Auf der einen Seite gehört das Recht eines Verfahrensbeteiligten, die Akten einzusehen, die der Vergabekammer vorliegen, zu den Grundprinzipien eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Andererseits können die Vergabeakten, in denen sich ja auch Teilnahmeanträge und Angebote befinden (können), Informationen enthalten, die schutzbedürftig sind.

Nach § 165 Abs. 1 GWB haben die Verfahrensbeteiligten grundsätzlich das Recht auf Einsicht in die gesamten verfahrensbezogenen Akten, die der Vergabekammer vorgelegt bzw. von ihr angelegt werden20OLG Jena, Beschluss vom 08.10.2015 - 2 Verg 4/15 - juris.

Die Vergabekammer kann allerdings Akteneinsicht versagen, wenn und soweit dies aus einem wichtigen Grund, insbesondere zum Schutz von Geheimnissen des Auftraggebers oder eines Unternehmens, geboten ist (§ 165 Abs. 2 GWB).

Nach § 165 Abs. 3 GWB hat jeder Beteiligte mit Übersendung seiner Akten oder Stellungnahmen auf die in Absatz 2 genannten Geheimnisse hinzuweisen und diese in den Unterlagen entsprechend kenntlich zu machen. Erfolgt dies nicht, wird eine Zustimmung zur Einsichtnahme fingiert.

Praxistipp

Jedes Unternehmen sollte in einem Begleitschreiben zum Teilnahmeantrag bzw. zum Angebot und/oder auf einem seinen Unterlagen vorgehefteten Blatt die Teile bezeichnen, die es für geheimhaltungsbedürftig hält, und dies kurz begründen..

2.9 Beschwerdeverfahren

2.9.1 Anfechtbare Entscheidungen

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Jeder Verfahrensbeteiligte kann eine für ihn nachteilige Entscheidung der Vergabekammer über den Nachprüfungsantrag (Entscheidung in der Hauptsache) anfechten. Das Rechtsmittel kann von vorn herein oder nachträglich auf bestimmte Beschwerdepunkte beschränkt werden.

(Isoliert) Anfechtbar sind auch Kostenentscheidungen einschließlich der Entscheidung über die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten sowie Entscheidungen im Rahmen der Vollstreckung nach § 168 Abs. 3 Satz 2 GWB.

Der isolierten Anfechtung entzogen sind verfahrensgestaltende oder -leitende Zwischenentscheidungen der Vergabekammer oder ihres Vorsitzenden (wie die Versagung von Akteneinsicht; § 165 Abs. 4 GWB). Ausnahme: Die Gewährung von Einsicht in Unterlagen, die unter § 165 Abs. 2 GWB fallen könnten, ist selbständig anfechtbar, weil anders drohende Schäden durch das Bekanntwerden von Geheimnissen nicht abzuwenden sind.21OLG Düsseldorf; Beschluss v. 28.12.2007 - VII-Verg 40/07 - VergabeR 2008, 281

2.9.2 Form und Frist

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Die Beschwerde ist schriftlich beim Beschwerdegericht – also beim Vergabesenat des Oberlandesgerichts (§ 171 Abs. 3 GWB) – einzureichen. Sie muss dort binnen einer Frist von zwei Wochen ab Zustellung des angefochten Beschlusses eingegangen sein. (§ 172 Abs. 1 GWB).

Für die Fristberechnung gelten die §§ 187 f. BGB. Der Tag der Zustellung wird nicht mitgerechnet. Erfolgt die Zustellung beispielsweise an einem Montag, so endet die Frist am übernächsten Montag um 24:00 Uhr. Fällt das rechnerische Fristende auf einen Samstag, Sonntag oder gesetzlichen Feiertag (am Sitz des Vergabesenats), so endet die Frist mit Ablauf des nächsten Werktages (§ 193 BGB).

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Die Beschwerdeschrift muss zugleich eine Begründung enthalten (§ 172 Abs. 2 GWB). Dafür muss der Beschwerdeführer den aus seiner Sicht noch entscheidungsrelevanten Streitstoff so aufarbeiten, dass das Beschwerdegericht weiß, worauf es ankommt. Eine Bezugnahme auf das Vorbringen im Verfahren vor der Vergabekammer genügt in der Regel nicht.

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Die Beschwerdeschrift muss zugleich eine Begründung enthalten (§ 172 Abs. 2 GWB). Dafür muss der Beschwerdeführer den aus seiner Sicht noch entscheidungsrelevanten Streitstoff so aufarbeiten, dass das Beschwerdegericht weiß, worauf es ankommt. Eine Bezugnahme auf das Vorbringen im Verfahren vor der Vergabekammer genügt in der Regel nicht.

2.9.3 Auswirkungen der sofortigen Beschwerde

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Auch wenn der Nachprüfungsantrag von der Vergabekammer als unzulässig oder unbegründet verworfen wurde, darf der Auftraggeber nicht sofort den Zuschlag erteilen. Das Zuschlagsverbot nach § 169 Abs. 1 GWB endet frühestens mit dem Ablauf der zweiwöchigen Beschwerdefrist. Legt der Antragsteller rechtzeitig sofortige Beschwerde ein, verlängert sich das Zuschlagsverbot um weitere zwei Wochen (§ 173 Abs. 1 Satz 2 GWB). Nach Ablauf dieser Frist darf der Auftraggeber den Zuschlag erteilen, es sei denn das Beschwerdegericht hat die aufschiebende Wirkung der sofortigen Beschwerde und damit das Zuschlagsverbot verlängert. (§ 173 Abs. 1 Satz 3 GWB).

2.9.4 Antrag auf Verlängerung der aufschiebenden Wirkung

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Der vor der Vergabekammer unterlegene Antragsteller kann sein Rechtsmittel mit dem Antrag verbinden, das auf insgesamt vier Wochen ab Zustellung des angefochtenen Beschlusses befristete Zuschlagsverbot bis zur abschließenden Entscheidung über die Beschwerde zu verlängern (§ 173 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 GWB).

Die Vergabesenate prüfen dann in der Regel zunächst die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels. Sind diese gering, hat der Eilantrag meist schon aus diesem Grund keinen Erfolg. Demgegenüber wird einem Eilantrag in der Regel stattgegeben, wenn vieles für die Unrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung spricht und eine besondere Eilbedürftigkeit der Auftragsvergabe nicht zu bejahen ist.

Lassen sich in diesem frühen Stadium des Beschwerdeverfahrens die Erfolgsaussichten der Beschwerde noch nicht abschätzen, muss der Vergabesenat eine Interessenabwägung vornehmen. Dabei kommt dem Interesse des Antragstellers ein großes Gewicht zu, weil der Zuschlag vollendete Tatsachen schafft. Deshalb wird der Eilantrag nur abgelehnt, wenn gewichtige Belange der Allgemeinheit einen raschen Abschluss des Vergabeverfahrens erfordern.

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Nach Eingang des Eilantrags fordert der Vergabesenat den Auftraggeber (und Beigeladene) auf, sich innerhalb einer kurzen Frist zu diesem Antrag zu äußern. Der Auftraggeber hat dann die Aufgabe, bereits in diesen Zwischenverfahren die Entscheidung der Vergabekammer zu verteidigen. In erster Linie sollte er aber versuchen, den Vergabesenat davon zu überzeugen, dass ihm die nachteiligen Folgen einer weiteren Verzögerung der Vergabe nicht mehr zugemutet werden können – allerdings nur dann, wenn auch tatsächlich Eilbedürftigkeit besteht, weil gewichtige Belange der Allgemeinheit einen raschen Abschluss des Vergabeverfahrens erfordern. Ansonsten besteht regelmäßig kein Anlass, dem Auftraggeber vor Abschluss des Beschwerdeverfahrens die Gelegenheit zu geben, mit dem Zuschlag vollendete Tatsachen zu schaffen.

2.9.5 Eilantrag nach § 176 GWB

53

Hatte der Nachprüfungsantrag Erfolg, enthält die Entscheidung der Vergabekammer in der Regel Anordnungen, die es dem Auftraggeber unmöglich machen, den Zuschlag zu erteilen (§ 173 Abs. 3 GWB). In diesem Fall können der Auftraggeber oder der vorläufige Ausschreibungsgewinner beantragen, den Zuschlag zu gestatten (§ 176 GWB). Die Abwägungskriterien sind die gleichen wie beim Antrag nach § 173 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 GWB.

Der Antrag muss den besonderen Anforderungen des § 176 Abs. 2 GWB genügen. Es reicht nicht aus, dass der Auftraggeber (oder ein andere Antragsteller) etwas behauptet. Vielmehr muss er alle Tatsachen, die er für entscheidungserheblich hält, glaubhaft machen (§ 294 ZPO). Dafür genügt es nicht, Beweismittel zu bezeichnen. Vielmehr muss er diese beifügen. In Betracht kommen in erster Linie eidesstattliche Versicherungen, andere Schriftstücke, Lichtbilder und sonstige Beweismittel, die der Vergabesenat ohne weiteres verwerten kann.

Praxistipp

Der Antrag nach § 176 GWB will gut überlegt sein, denn seine Ablehnung kann weitreichende Konsequenzen haben. Erfolgt die Ablehnung mit der Begründung, das bisherige Vergabeverfahren sei fehlerhaft gewesen, muss der Auftraggeber binnen 10 Tagen ab Zustellung des ablehnenden Beschlusses geeignete Maßnahmen ergreifen, um das Verfahren in vergaberechtskonforme Bahnen zu lenken. Tut er dies nicht, gilt das Vergabeverfahren kraft Gesetzes als beendet (§ 177 GWB).

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Die Verlängerung des Zuschlagsverbots nach § 173 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 GWB ist unanfechtbar. Diese Rechtslage kann der Auftraggeber oder der Ausschreibungsgewinner damit aushebeln, dass er mit einem Antrag nach § 176 GWB auf den erfolgreichen Antrag nach § 173 Abs. 1 Satz 3 GWB reagiert. Ein solcher „Gegenantrag“ nur dann ausnahmsweise zulässig, wenn er auf neue Tatsachen gestützt wird, etwa wenn die für eine besondere Eilbedürftigkeit sprechenden Umstände erst nachträglich entstanden sind.

2.9.6 Verfahren vor dem Vergabesenat in der Hauptsache

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Das Beschwerdeverfahren ist wegen seiner Einbindung in die Verfahrensregeln des GWB und der ZPO (§ 175 Abs. 2 GWB) etwas förmlicher als das Verfahren vor der Vergabekammer. Trotzdem können die Verfahrensbeteiligten im Wesentlichen so agieren oder reagieren wie in erster Instanz.

Unabhängig davon, wer Rechtsmittelführer ist, ist der Auftraggeber ist nach wie vor dazu aufgerufen, die vom Antragsteller in Frage gestellte Rechtmäßigkeit seiner Handlungen und/oder Entscheidungen in einem Vergabeverfahren zu verteidigen. Selbstverständlich ist er auch im Beschwerdeverfahren berechtigt, Fehler gleich welcher Art einzuräumen und zu korrigieren.

Alle Beteiligten können ihren Angriff bzw. ihre Verteidigung auf neue Tatsachen und Beweismittel stützen, soweit sie sich innerhalb des Rahmens bewegen, den der Beschwerdeführer mit seinem Vortrag gemäß § 172 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 GWB abgesteckt hat.

Das Verfahren vor dem Vergabesenat ist die erste und zugleich letzte gerichtliche Instanz im Hauptsacheverfahren. Mit der Verkündung der Entscheidung des Vergabesenats wird diese rechtskräftig, das Nachprüfungsverfahren ist beendet.

3. Primärrechtsschutz unterhalb der Schwellenwert

3.1 Überblick

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Mehr als 90% der öffentlichen Aufträge werden nicht unionsweit ausgeschrieben, weil die Auftragswerte nicht die Schwellenwerte erreichen. Somit unterliegt nur ein kleiner Teil aller Ausschreibungen der Nachprüfung durch Vergabekammern und Vergabesenate.

Aber auch im Unterschwellenbereich gibt es einen Primärrechtsschutz. Er ist allerdings bei Weitem nicht so bieterfreundlich ausgestaltet wie das Nachprüfungsverfahren nach den §§ 160 f. GWB.

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Ein Unternehmen kann Primärrechtsschutz durch den Erlass einer einstweiligen Verfügung nach den §§ 935 f. ZPO durch ein Zivilgericht erreichen. Inhalt einer Verfügung könnte beispielsweise sein, dass dem Aufraggeber (vorläufig) untersagt wird, den Zuschlag zu erteilen.

Als Verfügungsgrund kommt in der Regel die bevorstehende Beauftragung eines Konkurrenten in Betracht.

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Ein Schwachpunkt des Primärrechtsschutzes im Unterschwellenbereich ist das Fehlen eines gesetzlichen Zuschlagsverbots. Das Zivilgericht kann, muss aber nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Durch eine Terminbestimmung erfährt der Auftraggeber nicht nur vom anhängigen Verfahren; er gewinnt auch Zeit, um durch den Zuschlag vollendete Tatsachen zu schaffen.

Um dies zu verhindern, kann das Gericht eine Zwischenverfügung erlassen, die dem Auftraggeber untersagt, vor der Entscheidung über den Antrag nach §§ 935 f. ZPO den Zuschlag zu erteilen. Diese Verfahrensweise ist zwar im Gesetz nicht vorgesehen, aber zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes gerechtfertigt. Die Zwischenverfügung ist nicht mit einer sofortigen Beschwerde anfechtbar.22OLG Stuttgart, Urteil vom 21.07.2015 - 10 W 31/15 - VergabeR 2015, 840

Um zu vermeiden, dass ein nur sehr selten mit Vergabesachen befasstes Gericht diese Möglichkeit übersieht, sollte der Antragsteller vorsorglich für den Fall der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung den Erlass einer ein vorläufiges Zuschlagsverbot aussprechenden Zwischenverfügung beantragen.

Eine vergabespezifische Nachprüfungsmöglichkeit nach Landesrecht schließt das Recht auf Anrufung eines Zivilgerichts nicht aus.

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Gegen eine ohne mündliche Verhandlung ergangene einstweilige Verfügung kann der Auftraggeber Widerspruch einlegen (§§ 924 Abs. 1, 936 ZPO). Der Widerspruch hat keine aufschiebende Wirkung, d.h. die einstweilige Verfügung ist zu weiter zu beachten. Über den Widerspruch entscheidet das Gericht, das die einstweilige Verfügung erlassen hat. Erging die einstweilige Verfügung nach mündlicher Verhandlung durch Urteil oder wurde sie nach eingelegtem Widerspruch durch ein Urteil bestätigt, kann der Auftraggeber Berufung (§ 511 ZPO) einlegen.

Wird der Antrag abgelehnt, steht dem Antragsteller im Falle einer Entscheidung durch Beschluss die sofortige Beschwerde (§ 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) und gegen ein Urteil die Berufung (§ 511 ZPO) zu.

3.2 Verfügungsanspruch

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Bei Auftragsvergaben unterhalb der Schwellenwerte haben Bewerber und Bieter einen Anspruch aus Art. 3 Abs. 1 GG auf Gleichbehandlung durch den öffentlichen Auftraggeber.

Inzwischen geht die Rechtsprechung23Z.B. OLG Düsseldorf, Urteil v. 13.01.2010 - 27 U 1/09 - VergabeR 2010, 531; siehe auch BGH, Urteil v. 05.06.2012 - X ZR 161/11 - VergabeR 2012, 842 überwiegend davon aus, dass die am Auftrag interessierten Unternehmen zudem Anspruch auf Einhaltung der Regeln haben, die zu beachten der Auftraggeber bei der Ausschreibung versprochen hat. Dazu gehören auch die Bestimmungen der Vergabe(ver)ordnung, die der Auftraggeber seiner Ausschreibung zugrunde legt.24OLG Jena, Urteil v. 08.12.2008 - 9 U 431/08 - VergabeR 2009, 524

Verstößt der Auftraggeber gegen diese Regeln und kann dieser Verstoß zu einer Beeinträchtigung der Chancen eines Bewerbers oder Bieters führen, hat dieser einen Unterlassungsanspruch aus §§ 241 Abs. 2, § 311 Abs. 2 BGB unter der Voraussetzung, dass er bei rechtmäßiger Verfahrensweise des Auftraggebers eine Chance auf den Zuschlag hätte. Es genügt ein schuldhafter Verstoß, bewusst willkürliches Verhalten ist insoweit nicht erforderlich.

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Einige Gerichte25LG Berlin, Beschluss v. 05.12.2011 - 52 O 254/11 - juris; LG Wiesbaden, Beschluss v. 12.07.2012 - 4 O 17/12 - juris verlangten – in Anlehnung an § 107 Abs. 3 Satz 1 GWB a.F. – eine vorherige Rüge. Nur wenn der Antragsteller den Auftraggeber erfolglos zur Beseitigung eines Vergaberechtsverstoßes aufgefordert habe, sei es gerechtfertigt, durch Erlass einer einstweiligen Verfügung auf das Vergabeverfahren einzuwirken. Diese Auffassung ist einerseits fragwürdig, weil weder das BGB noch die ZPO eine dem Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz vorgeschaltete Rüge kennen und auch keine ungewollte Regelungslücke ersichtlich ist. Andererseits kann aber auch nicht übersehen werden, dass das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme auch für am Auftrag interessierte Unternehmen gilt. Daraus kann man durchaus die Obliegenheit ableiten, erkannte Vergaberechtsverstöße zu rügen und dem Auftraggeber die Möglichkeit zur Selbstkorrektur zu geben, bevor ein gerichtliches Verfahren eingeleitet wird.

Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Auffassung letztlich durchsetzt. Wegen der Ungewissheit sind Unternehmen gut beraten, wenn sie sich darauf einstellen, dass auch das für sie zuständige Zivilgericht eine vorherige Rüge verlangt.

4. Nachprüfungsverfahren nach Landesrecht

In Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen gibt es Unterschwellenvergaben einen vergabespezifischen „Primärrechtsschutz light.

4.1 Thüringen

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Nach § 19 ThürVgG muss der Auftraggeber – auch der privatrechtlich organisierte im Sinne des § 99 Nr. 2 GWB – bei Bauaufträgen mit einem geschätzten Auftragswert > 150.000 € netto und bei sonstigen Aufträgen > 50.000 € netto alle Bieter, deren Angebote nicht berücksichtigt werden sollen, schriftlich über die Gründe dafür und den Namen des Ausschreibungsgewinners unterrichten. Frühestens am 8. Tag nach der Absendung der Vorabinformation darf der Zuschlag erteilt werden. In der Zwischenzeit kann ein Bieter schriftlich eine Rüge erheben. Hilft der Auftraggeber nicht ab, sind die Vergabeakten der Vergabekammer zur Nachprüfung vorzulegen

Der Auftraggeber darf den Auftrag erst erteilen, wenn die Vergabekammer das Vergabeverfahren nicht innerhalb einer Stillhaltefrist von 14 Kalendertagen mit einer zu begründenden Entscheidung als vergaberechtswidrig qualifiziert. Beanstandet die Vergabekammer das Vergabeverfahren, hat der öffentliche Auftraggeber deren Entscheidung unverzüglich umzusetzen.

Das Gesetz lässt offen, ob die Entscheidung der Vergabekammer anfechtbar ist. Geht man davon aus, dass die Vergabekammer insoweit als Teil der Verwaltung handelt, liegt ein anfechtbarer Verwaltungsakt vor, dessen Überprüfung mangels einer § 171 Abs. 3 GWB entsprechenden Sonderzuweisung in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte fiele.

4.2 Sachsen-Anhalt

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Die Regelungen in § 19 LVG LSA entsprechen weitgehend denen in Thüringen. Allerdings ist die Stillhaltefrist wesentlich länger; sie beträgt vier Wochen und kann vom Vorsitzende der Vergabekammer im Einzelfall um zwei Wochen verlängert werden.

4.3 Sachsen

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In Sachsen wurde andere Lösung gefunden. Nachprüfungsstelle ist nicht eine Vergabekammer, sondern die Aufsichtsbehörde, bei kreisangehörigen Gemeinden und Zweckverbänden die Landesdirektion Sachsen (§ 8 Abs. 2 Satz 4 SächsVergabeG).

Nach § 8 Abs. 1 SächsVergabeG beträgt die Wartefrist zwischen Vorabinformation und Zuschlag bzw. die Stillhaltefrist nach Einleitung des „Nachprüfungsverfahrens“ jeweils 10 Tage.

Ein Unternehmen hat zwar das Recht, Beanstandungen zu erheben, aber keinen Anspruch auf Tätigwerden der Nachprüfungsbehörde (§ 8 Abs. 2 Satz 3 SächsVergabeG). Gibt die Nachprüfstelle einem Bieter Recht, muss der Auftraggeber den Vergaberechtsverstoß abstellen.

§ 8 SächsVergabeG gilt auch für Aufträge von Zuwendungsempfängern, die selbst keine öffentlichen Auftraggeber sind, aber aufgrund des Zuwendungsbescheid Vergaberecht beachten müssen. Nachprüfungsstelle ist dann die Bewilligungsbehörde.