Auswirkungen der Corona-Krise auf die Bauwirtschaft
Störungen des Bauablaufs - Hinweise für Neuaufträge - Bedeutung AGB
Die Kanzlei DIECKERT Recht und Steuern, deren Rechtsanwälte für Reguvis Fachmedien seit Jahren als Autoren und Referenten tätig sind, hat uns gestattet, die nachfolgenden Informationen zu den rechtlichen Auswirkungen der Corona-Krise unseren Kunden zur Verfügung zu stellen. Sollten Sie am Bezug weiterer – kostenfreier – Informationen durch die Kanzlei DIECKERT zu Rechtsfragen aus dem Bereich des Baurechtes interessiert sein, so richten Sie eine kurze Anfrage an berlin@dieckert.de.
Derartige Auskünfte können zwar nicht die Beratung im Einzelfall ersetzen, zumal sich die Vertragsparteien nicht immer und ohne Weiteres auf das Vorliegen „höherer Gewalt" berufen können. Die Hinweise können jedoch dabei helfen, sich einen ersten Überblick über die wechselseitigen Rechte und Pflichten zu verschaffen. Unabhängig davon steht die Kanzlei auch für die Beratung in konkreten Problemfällen zur Verfügung.
WELCHE RECHTLICHEN AUSWIRKUNGEN HABEN STÖRUNGEN DES BAUABLAUFS BEI AKTUELLEN BAUVORHABEN?
Wenn es zu Verzögerungen oder gar zu Stillstand auf der Baustelle kommt, stellen sich für beide Vertragsparteien viele Fragen. Der Übersichtlichkeit halber unterstellen alle nachfolgenden Erläuterungen, dass im jeweiligen Bauvertrag die Geltung der VOB/B vereinbart wurde, was in der überwiegenden Mehrzahl der Verträge der Fall ist. Allerdings beantwortet die VOB/B bei weitem nicht alle in diesem Zusammenhang auftretenden Fragen. Hierzu müssen die Regelungen aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch zu Rate gezogen werden.
FRAGE 1 : VERLÄNGERN SICH DURCH DIE CORONA-EPIDEMIE ALLE VERTRAGSFRISTEN?
Dies ist eindeutig zu verneinen. Solange es keine konkreten Beeinträchtigungen des Bauablaufs gibt, etwa Erkrankung von Mitarbeitern, angeordnete Quarantänemaßnahmen für den Betrieb des Auftragnehmers oder die Baustelle, ausbleibende Materiallieferungen oder Mitarbeitermangel wegen Einreisebeschränkungen, gibt es auch keine Anpassung der Vertragstermine.
FRAGE 2: MUSS DER AUFTRAGNEHMER MEHRKOSTEN IN KAUF NEHMEN, UM DIE LEISTUNGEN WEITERZUFÜHREN?
Schon in der Vergangenheit gab es Situationen, in denen durch unvorhergesehene Preissteigerungen für Stahl oder Kupfer oder andere Ereignisse massive Mehrkosten bei der Ausführung von Aufträgen entstanden sind. Ähnliches kann sich jetzt wiederholen, wenn zum Beispiel preiswerte Monteur-Unterkünfte geschlossen werden oder Montagekolonnen nicht einreisen können. Die Frage ist, ob der Auftragnehmer teurere Unterkünfte anmieten oder inländische Nachunternehmer beauftragen muss, um seine Leistungen weiterzuführen.
Nach den geltenden gesetzlichen Regelungen ist der Auftragnehmer verpflichtet, Mehrkosten zu übernehmen. In § 275 Abs. 2 BGB steht hierzu: „Der Schuldner kann die Leistung verweigern, soweit diese einen Aufwand erfordert, der unter Beachtung des Inhalts des Schuldverhältnisses und der Gebote von Treu und Glauben in einem groben Missverhältnis zu dem Leistungsinteresse des Gläubigers steht. Bei der Bestimmung der dem Schuldner zuzumutenden Anstrengungen ist auch zu berücksichtigen, ob der Schuldner das Leistungshindernis zu vertreten hat.“
Aus der Rechtsprechung der vergangenen Jahrzehnte ergibt sich, dass ein Auftragnehmer erhebliche wirtschaftliche Anstrengungen auf sich nehmen muss, um die Weiterführung der Arbeiten zu ermöglichen.
In dem größten Kommentar zum BGB heißt es hierzu: „Das Maß grober Unverhältnismäßigkeit ist dann erreicht, wenn ganz offensichtlich kein vernünftiger Mensch daran denken würde, den unter den gegebenen Umständen erforderlichen Aufwand zu treiben, um die Vertragsleistung zu erhalten. Die Erbringung der Leistung muss angesichts der Kosten evident und in hohem Maße unsinnig sein. Ist dieser Grad evidenter Unsinnigkeit nicht erreicht, schadet die bloße Unwirtschaftlichkeit dem Auftraggeber nicht.“
In diesem Sinne sagt auch § 6 Abs. 3 VOB/B, dass der Auftragnehmer alles tun muss, was ihm billigerweise zugemutet werden kann, um die Weiterführung der Arbeiten zu ermöglichen.
Wenn es am Ende tatsächlich zum Streit über mögliche Verzugsschäden kommt, könnten Auftraggeber demzufolge argumentieren, dass der Auftragnehmer nicht alles gesetzlich Gebotene getan hätte, um die Weiterführung der Arbeiten zu ermöglichen. Mit Blick auf den Umfang des Auftrages seien z. B. Mehrkosten für teurere Übernachtungen hinzunehmen gewesen. Umso wichtiger ist es für den Auf-tragnehmer, seine Anstrengungen zur Weiterführung der Arbeiten zu dokumentieren. Das kann etwa dadurch geschehen, dass Anfragen bei anderen Unternehmen gemacht werden und dokumentiert wird, dass alle angefragten Firmen keine freien Kapazitäten hatten bzw. keine Angebote geschickt haben.
FRAGE 3: MUSS DER AUFTRAGNEHMER EINE BEHINDERUNGSANZEIGE AN DEN AUFTRAGGEBER SCHICKEN?
Teilweise wird empfohlen, dass Auftragnehmer generell Behinderung wegen der Corona-Epidemie anmelden sollten. Solange es jedoch keine konkreten Beeinträchtigungen der Baustelle gibt, ist eine solche „allgemeine“ Behinderungsanzeige unnötig.
Wenn jedoch Mitarbeiter erkranken, Material nicht geliefert oder gar die Baustelle vom Auftraggeber gesperrt wird, ist eine Behinderungsanzeige zwingend notwendig. In dem Schreiben muss der Auftragnehmer mitteilen, durch welche konkreten Umstände er in der Erbringung seiner Leistungen behindert ist. Im Falle einer Stilllegung der Baustelle oder aufgrund anderer Umstände aus dem Bereich des Auftraggebers (fehlende Vorleistungen, bauseits nicht geliefertes Material) muss der Auftragnehmer außerdem ausdrücklich klarstellen, dass er weiterhin leistungsbereit ist.
In § 6 Abs. 1 VOB/B steht zwar, dass eine Behinderungsanzeige nicht nötig ist, wenn dem Auftraggeber die hindernden Umstände und deren Auswirkung auf den Bauablauf bekannt sind. Das gilt aber nur für die Verlängerung der Bauzeit. Eine Entschädigung wegen Baustillstand oder fehlender Vorleistungen (§ 642 BGB) kann der Auftragnehmer nur verlangen, wenn er seine Leistungen ausdrücklich angeboten hat (§ 295 BGB), und der Auftraggeber dadurch in Annahmeverzug geraten ist.
FRAGE 4: MUSS DER AUFTRAGGEBER STILLSTANDSKOSTEN BEZAHLEN, WENN SEITENS DER GESUNDHEITSBEHÖRDE DIE BAUSTELLE STILLGELEGT WERDEN WÜRDE?
Wir gehen derzeit davon aus, dass der Auftraggeber in diesem Fall nicht in Annahmeverzug gerät, da der Auftragnehmer nicht leistungsbereit ist.
Zwar steht in § 293 BGB, dass der Auftraggeber in Annahmeverzug kommt, wenn er die angebotene Leistung nicht annimmt. Warum der Auftraggeber die Leistung nicht annimmt, spielt nach der gesetzlichen Regelung keine Rolle. Während für den Schuldnerverzug in § 286 BGB ausdrücklich klargestellt wird, dass der Schuldner nicht in Verzug kommt, solange die Leistung infolge eines Umstandes unterbleibt, den er nicht zu vertreten hat, fehlt für den Gläubigerverzug (Annahmeverzug) eine solche Einschränkung. § 297 BGB besagt aber, dass der Gläubiger nicht in (Annahme-)Verzug kommt, wenn der Schuldner zur Zeit des Angebots oder im Zeitpunkt der notwendigen Mitwirkungshandlung des Auftraggebers selbst außerstande ist, die Leistung zu bewirken. Das wäre der Fall, wenn der Auftragnehmer mit der Weiterarbeit gegen eine behördliche Anordnung verstoßen würde. Wenn die Behörde die Baustelle stillgelegt, und dort niemand arbeiten darf, gibt es also keine Entschädigungspflicht, weil der Auftragnehmer nicht in der Lage wäre, die Leistungen zu erbringen und deshalb kein Annahmeverzug vorliegt.
FRAGE 5: KANN DER AUFTRAGGEBER AUS VORSICHTSGRÜNDEN DIE ARBEITEN UNTERBRECHEN LASSEN?
Eine Wohnungsbaugesellschaft überlegt derzeit, ob sie eine beauftragte Strangsanierung stoppt. Es besteht die Befürchtung, dass durch die Corona-Epidemie möglicherweise unabsehbare Störungen im Bauablauf entstehen und die aufgrund der Bauarbeiten umgesetzten Mieter nicht wieder in ihre Wohnungen zurückkehren können. Die Wohnungsbaugesellschaft möchte die Arbeiten am liebsten so lange verschieben, bis Klarheit über den weiteren Verlauf der Epidemie besteht.
Ohne ein behördlich angeordnetes Arbeitsverbot löst solche eine Unterbrechung der Arbeiten durch den Auftraggeber Entschädigungsansprüche des Auftragnehmers aus. Der Auftraggeber wäre verpflichtet, dem Auftrag-nehmer eine Entschädigung während der Zeit eines von ihm angeordneten Baustellenstillstandes zu bezahlen. Wir raten Auftraggebern daher davon ab, aus Vorsichtsgründen einen solchen Baustopp auszusprechen.
Zu der Entschädigungspflicht kommt noch ein Kündigungsrisiko hinzu. Es ist seit Jahren strittig, ob der Auftraggeber das Recht hat, Anordnungen bezüglich der Bauzeit zu treffen. Als das neue Bauvertragsrecht geschaffen wurde, welches zum 1.1.2018 in Kraft trat, wurde dieses Thema ebenfalls diskutiert, der Gesetzgeber hat sich aber entschlossen, hierzu nichts ins Gesetz zu schreiben. Es gibt also kein solches Anordnungsrecht. Entweder der Auftragnehmer akzeptiert das Zutrittsverbot und respektiert den Willen des Auftraggebers, oder er müsste als Alternative dem Auftraggeber eine Frist setzen, ihm die Leistungen zu ermöglichen, und die Kündigung des Vertrages androhen (§§ 642, 643 BGB).
Fraglich ist, ob eine solche Kündigung berechtigt wäre. Grundsätzlich ist der Auftragnehmer zwar im Falle der unterlassenen Mitwirkungshandlung des Auftraggebers zur Kündigung berechtigt. Es könnte aber sein, dass die Gerichte im Falle der Corona-Epidemie eine Ausnahme machen und der Meinung sind, eine Kündigung würde gegen die Kooperationspflicht bzw. Treu und Glauben verstoßen.
Zumindest dann, wenn der Auftraggeber dem Auftragnehmer zusagt, die Stillstandskosten zu übernehmen, würden wir eine Kündigung des Auftragnehmers sehr kritisch sehen. Wenn allerdings der Auftragnehmer im Unklaren darüber bleibt, ob der Auftraggeber die Kosten des angeordneten Baustopps zeitnah übernehmen will, wird man dem Auftragnehmer nicht das Recht absprechen können, den Schwebezustand durch eine Kündigung zu beenden.
FRAGE 6: WIE WIRD DIE ENTSCHÄDIGUNG BERECHNET
Wenn der Auftraggeber einen Baustopp anordnet, ohne dass eine behördliche Anordnung vorliegt, kann der Auftragnehmer Ansprüche sowohl nach § 642 BGB als auch nach § 2 Abs. 5 VOB/B geltend machen. Beruht die Unterbrechung der Arbeiten darauf, dass andere auf der Baustelle tätige Unternehmer Vorleistungen nicht erbringen, gibt es nur Entschädigungsansprüche nach § 642 BGB.
Bei der Ermittlung der Höhe der Entschädigung ist nach dem Gesetzestext die Dauer des Annahmeverzuges und die Höhe der Vergütung zu berücksichtigen, andererseits aber auch, was der Auftragnehmer in Folge des Annahmeverzuges an Aufwendungen erspart oder durch anderweitige Verwendung seiner Arbeitskraft erwerben kann (§ 642 Abs. 2 BGB). Einzelheiten sind in der Rechtsprechung umstritten. Jedenfalls ist ein Entschädigungsbetrag zu finden, der eine angemessene Abgeltung dafür darstellt, dass der Unternehmer seine Zeit, seine Arbeitskraft, seine Betriebsstoffe und -geräte auf ungewisse Zeit gerade für die Herstellung des Werkes zur Verfügung gehalten hat. Eine abstrakte Schadensberechnung anhand der Allgemeinen Geschäftskosten und Baustellen-gemeinkosten für die verlängerte Bauzeit genügt nicht. Vielmehr muss in einer Art Bilanz konkret dargelegt werden, welche Differenz der Vermögenslage sich bei einem Vergleich des ungestörten mit dem verzögerten Bauablauf ergibt. Hierzu sind für den Gesamtzeitraum bis zur tatsächlichen Beendigung des Auftrags die erwarteten und die tatsächlichen Einnahmen und Ausgaben gegenüberzustellen (so OLG Frankfurt, IBR 2018, 554).
Selbst wenn die gem. § 642 Abs. 2 BGB maßgebliche vereinbarte Vergütung für den Unternehmer nicht auskömmlich sein sollte, beläuft sich seine Entschädigung zumindest auf die Höhe der Mehrkosten, die ihm durch den Mitwirkungsverzug entstanden sind. Daraus folgt: Hat der Auftragnehmer die tatsächlichen Mehrkosten dargelegt und beansprucht er keinen Zuschlag zur Deckung seiner Allgemeinen Geschäftskosten und seines Gewinns, bedarf es keines weiteren Parteivortrags zur Kalkulation der Vergütung (so das Kammergericht, IBR 2018, 315). Anderer Ansicht ist allerdings das OLG München, welches meint, dass die Berechnung der Entschädigung auf der Basis der Urkalkulation erfolgen müsse. Die tatsächlichen Mehrkosten würden dabei nicht berücksichtigt (IBR 2018, 132).
Die Höhe eines Entschädigungsanspruchs aus § 642 Abs. 2 BGB umfasst auch die in der vereinbarten Vergütung enthaltenen Anteile für Wagnis, Gewinn und Allgemeine Geschäftskosten (BGH, IBR 2017, 666). Gemeint sind damit Zuschläge auf die (tatsächlich oder kalkulatorisch ermittelten) Stillstandskosten, nicht aber eine fiktive „AGK-Unterdeckung“. Hierunter wird verstanden, dass der Auftragnehmer den Umsatz ermittelt, den er während des Baustillstandes gemacht hätte, und die hierin enthaltenen allgemeinen Geschäftskosten erstattet verlangt. Begründet wird ein solches Verlangen damit, dass der Umsatz jedenfalls in dem betrachteten Zeitraum endgültig verloren gegangen ist, während die Kosten für den Geschäftsbetrieb weitergelaufen sind. In der Rechtsprechung wird die Erstattung einer solchen AGK-Unterdeckung abgelehnt, wenn der Unternehmer den Umsatz „nachholen“ kann, also nur eine Verschiebung des Umsatzes in einen späteren Kalenderzeitraum vorliegt. Speziell in der aktuellen „Corona-Situation“ könnte es aber sein, dass sich derartig viele Leistungen um Monate verschieben, dass die Kapazitäten der Unternehmen, die schon vor der Krise sehr gut ausgelastet waren, einfach nicht ausreichen, um Umsätze tatsächlich nachzuholen.
Im Unterschied zum Entschädigungsanspruch gemäß § 642 BGB kann ein Vergütungsanspruch wegen angeordneter Bauunterbrechung gemäß § 2 Abs. 5 VOB/B nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nur auf der Basis tatsächlich entstandener Stillstandskosten berechnet werden. Hier soll es auf die Kalkulation nicht ankommen (BGH, IBR 2009, 628).
FRAGE 7: MEHRKOSTEN NACH EINER WIEDERAUFNAHME DER ARBEITEN
Wenn die Arbeiten auf einer Baustelle für mehrere Wochen oder Monate unterbrochen waren, kann es neben den Stillstandskosten auch Mehrkosten nach einer Wiederaufnahme der Arbeiten geben. Zu denken ist hier etwa an Materialpreissteigerungen. Im Moment gehen wir davon aus, dass behördlich angeordnete Stilllegungen von Baustellen die Ausnahme bleiben werden. Im überwiegenden Teil der Fälle werden Baustellen ins Stocken geraten, weil einzelne Unternehmer nicht leisten können, und deshalb andere Unternehmer auf der gleichen Baustelle in der Ausführung ihrer Leistungen behindert sind. Auch in solchen Fällen stehen den betroffenen Unternehmern grundsätzlich Entschädigungsansprüche gegen den Auftraggeber zu, allerdings nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nur für den Zeitraum des Annahmeverzuges.
Mehrkosten können aber auch nach dem Ende des Annahmeverzuges Monate später entstehen. Für die Erstattung solcher Mehrkosten gibt es theoretisch § 6 Abs. 6 VOB/B als Anspruchsgrundlage. In der Regel wird der Auftraggeber aber die Behinderungen nicht zu vertreten haben (im Sinne eines Verschuldens). In den meisten Fällen ist der einzige Weg zur Durchsetzung solcher späteren Mehrkosten die Androhung der Vertragskündigung durch den Auftragnehmer. Dies belastet natürlich das Verhältnis zum Auftraggeber, aber durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes bleibt dem Auftragnehmer häufig kein anderer Weg.
Autor: Hendrik Bach, RA
WAS IST BEI NEUAUFTRÄGEN ZU BEACHTEN?
Grundsätzlich gilt bei Neuaufträgen ebenso wie bei bereits in Abwicklung befindlichen Aufträgen, dass die Corona-Epidemie als solche nicht automatisch dazu führt, dass die Vertragsparteien von ihren Leistungspflichten (gänzlich) frei werden. Eine Fristverlängerung für den Auftragnehmer gibt es nur dann, wenn konkrete Behinderungen durch die Corona-Epidemie vorliegen. Der Auftrag-nehmer muss versuchen, die Leistungen zu erbringen, auch wenn dadurch Mehrkosten entstehen. Umgekehrt ist der Auftraggeber weiterhin verpflichtet, die Leistungen entgegenzunehmen und kann nicht einfach wegen der Epidemie die Baustelle stilllegen, solange es keine behördliche Anordnung hierzu gibt.
Ein Unterschied bei jetzt neu abgeschlossenen Verträgen besteht aber darin, dass beiden Seiten die Tatsache der Corona-Epidemie bereits bekannt ist, und es sich in diesem Sinne deshalb nicht mehr um „höhere Gewalt“ handeln kann. Der Begriff der höheren Gewalt setzt nämlich voraus, dass ein Ereignis unvorhersehbar ist, was bei bereits bekannten Ereignissen nicht der Fall ist.
Zwar liegen bei Erkrankung von Mitarbeitern oder der etwaigen Stilllegung einer Baustelle oder Lieferschwierigkeiten für den Auftrag-nehmer in der Regel unabwendbare Ereignisse vor. Dennoch könnte ein Auftraggeber im Falle von Terminüberschreitungen argumentieren, dass der Auftragnehmer im Zeitpunkt seines Angebotes die möglichen Störungen des Bauablaufs bereits kannte, und Störungen mit denen man rechnen musste, nicht als Behinderung geltend gemacht werden können. Die Argumentation wäre so ähnlich wie bei Schlechtwetter, mit dem bei Abgabe des Angebotes gerechnet werden musste. Witterungseinflüsse während der Bauzeit, mit denen bei Abgabe des Angebotes normalerweise gerechnet werden muss, gelten bekanntlich nicht als Behinderung (§ 6 Abs. 2 Ziffer 2 VOB/B).
Umgekehrt könnten Auftragnehmer argumentieren, dass ein Auftraggeber, der jetzt noch mit einer Baustelle beginnt, damit rechnen musste, dass es eventuell behördliche Anordnungen zur Stilllegung der Baustelle geben könnte.
Auftragnehmer und Auftraggeber müssen daher prüfen, wie sich die Corona-Problematik auf neue Aufträge auswirkt. Hierbei sind folgende Konstellationen zu unterscheiden:
Für Auftragnehmer:
FALL 1: SIE HABEN VOR EINIGEN WOCHEN EIN BINDENDES ANGEBOT ABGEGEBEN UND JETZT ERFOLGT DER ZUSCHLAG
Wenn der Auftraggeber Ihr Angebot rechtzeitig und unverändert beauftragt, kommt der Vertrag mit Zugang des Zuschlagschreiben zustande. Sie müssen den Auftrag nicht „annehmen“ und Sie können ihn auch nicht zurückweisen, da Sie an das Angebot gebunden sind. Es gelten die gleichen Grundsätze wie für bereits laufende Bauvorhaben.
FALL 2: SIE HABEN VOR EINIGEN WOCHEN EIN BINDENDES ANGEBOT ABGEGEBEN, WELCHES VOM AUFTRAGGEBER ABER NICHT RECHTZEITIG ODER NICHT UNVERÄNDERT BEAUFTRAGT WURDE
Mitunter kommt es vor, dass der Auftraggeber im Zuschlagschreiben noch Änderungen gegenüber dem ursprünglichen Angebot vornimmt oder mit dem Auftragnehmer einen gesonderten Bauvertrag abschließen will. Rechtlich handelt es sich dabei um die Ablehnung Ihres ursprünglichen Angebotes und die Unterbereitung eines Gegenangebotes (§ 150 BGB). Dieses Gegenangebot können Sie annehmen, müssen Sie aber nicht. Der Vertrag kommt in diesem Fall erst zu Stande, wenn Sie den Auftrag „annehmen“. Das kann durch eine Auftragsbestätigung oder durch das stillschweigende Akzeptieren der geänderten oder verspäteten Beauftragung oder auch durch die Unterzeichnung eines Bauvertrages durch beide Parteien geschehen. Da jetzt die Corona-Epidemie bekannt ist, wären dadurch verursachte Störungen jedenfalls keine höhere Gewalt mehr, weil dieser Begriff voraussetzt, dass es sich um ein (bei Vertragsabschluss) unvorhersehbares Ereignis handelt. Trotzdem liegt nach unserer Auffassung die zweite Alternative von § 6 Abs. 2 VOB/B vor, nämlich „andere für den Auftragnehmer unabwendbare Umstände“. Gleichwohl empfiehlt es sich dringend, in dieser Konstellation schriftlich klarzustellen, dass Beeinträchtigungen durch das Corona-Virus die Fertigstellungstermine möglicherweise verlängern. Der Auftragnehmer muss klarstellen, dass er keine Mehrkosten bei Ausfällen von Arbeitnehmern, Nach-unternehmern oder Lieferanten übernimmt. Das sollte in der Auftragsbestätigung festgehalten werden. Ein Unterfall dieser Konstellation ist eine angefragte Bindefristverlängerung. Hier sollten Sie als Auftragnehmer die Zustimmung zur Bindefristverlängerung davon abhängig machen, dass sich die Ausführungsfristen wegen der Corona-Epidemie verlängern können. Gegenüber privaten Auftraggebern kann dies in die Zustimmung zur Bindefristverlängerung aufgenommen werden, bei öffentlichen Auftraggebern ist vor Abgabe der Bindefristverlängerung eine Bieteranfrage zu stellen (siehe nächste Ziffer 3).
FALL 3: SIE UNTERBREITEN JETZT NEUE ANGEBOTE
Bei allen neuen Angeboten an private Auftraggeber sollte der Hinweis aufgenommen werden, dass das Angebot davon ausgeht, dass Materiallieferungen pünktlich erfolgen und der Einsatz von Arbeitnehmern ohne Einschränkungen möglich ist, und sich die angebotenen Fertigstellungstermine durch die Auswirkungen der Corona-Epidemie verlängern können.
Bei Angeboten in öffentlichen Ausschreibungen dürfen Sie keine Änderungen in den Vergabeunterlagen vornehmen, auch nicht im Rahmen einer Bindefristverlängerung. Dort bleibt nur die Möglichkeit, durch eine Bieteranfrage vor Angebotsabgabe bzw. in Bezug auf eine Bindefristverlängerung zu klären, ob die in der Ausschreibung vorgegebenen Ausführungsfristen trotz der Corona-Epidemie verbindlich bleiben. Die Frage könnte wie folgt formuliert werden:
„In der Ausschreibung ist als Fertigstellungstermin für die Leistungen der xxxxxx vorgesehen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann nicht beurteilt werden, ob dieser Fertigstellungstermin einzuhalten ist, da wegen der Corona-Epidemie Materiallieferungen und der Einsatz ausländischer und inländischer Arbeitskräfte wegen Reisebeschränkungen, Krankheit, Fehlen von Unterkünften und behördliche Anordnungen beeinträchtigt werden kann. Wir fragen hiermit an, ob sich im Falle solcher unabwendbarer Beeinträchtigungen die vertraglich vorgesehenen Ausführungstermine verlängern.“
Wenn der Auftraggeber dies nicht bestätigt, sollten Sie gegebenenfalls von der Zustimmung zur Bindefristverlängerung absehen.
Für Auftraggeber:
MUSS SICH DER AUFTRAGGEBER BEI NEU ZU VERGEBENDEN AUFTRÄGEN VOR STILLSTANDSKOSTEN SCHÜTZEN?
In unserem Artikel zu laufenden Bauvorhaben haben wir die Ansicht vertreten, dass der Auftraggeber bei behördlich angeordneter Stilllegung einer Baustelle keine Entschädigung an die dort tätigen Auftragnehmer zahlen muss.
Daher könnte man meinen, dass besondere vertragliche Vereinbarungen nicht nötig sind.
Allerdings gehen wir davon aus, dass solche behördlichen Anordnungen die Ausnahme bleiben werden und der größte Teil der Bauverzögerungen darauf zurückgehen dürfte, dass wegen der Corona-Epidemie einzelne Unternehmer ihre Leistungen nicht rechtzeitig erbringen können. Dadurch werden dann auch andere Unternehmer behindert, und diese haben auf jeden Fall Entschädigungsansprüche.
Der Auftraggeber kann sich hiergegen nur durch eine ausdrückliche vertragliche Vereinbarung schützen, etwa indem geregelt wird, dass verspätete Vorleistungen anderer Gewerke, die auf die Corona-Epidemie zurückgehen, nicht zu einer Entschädigungspflicht führen, sondern der Auftragnehmer dieses Risiko übernimmt. Der Auftrag-nehmer muss dann entscheiden, ob er das akzeptieren will.
Autor: Hendrik Bach, RA
ÜBLICHE REGELUNGEN ZU HÖHERER GEWALT IN AGB VON LIEFER- UND DIENSTLEISTUNGSVERTRÄGEN
Durch den Ausbruch der Corona-Epidemie weltweit ist mit einer Reihe von Lieferengpässen durch Grenzschließungen und mit Ausfällen von Mitarbeitern oder ganzen Firmen auf Grund von Infizierungen mit dem Virus SARS-CoV-2 zu rechnen. Folglich kann es zu Verzögerungen von Materiallieferungen in der Baubranche, aber auch zur Verschiebung oder zum Ausfall von vertraglich vereinbarten Wartungsterminen bei technischen Anlagen kommen.
Der folgende Beitrag befasst sich mit der Frage, welche Auswirkungen die Leistungsverzögerung bzw. Leistungsstörung durch Verschiebung oder Nichteinhaltung der vertraglich vereinbarten Termine hat und inwieweit ein Fall von „höherer Gewalt“ vorliegt.
SARS-COV-2 ALS „HÖHERE GEWALT“?
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass der unkontrollierte Ausbruch von Epidemien bzw. Pandemien als „höhere Gewalt“ zu klassifizieren ist. Der SARS-CoV-2 wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Pandemiefall eingestuft, sodass auch dessen Ausbreitung als ein Fall „höherer Gewalt“ anzusehen ist.
In solch einem Fall gilt bei der Prüfung der zur Verfügung stehenden Ansprüche die generelle juristische Regelung „Vertrag – Vertrauen – Gesetz“. Soll heißen, dass vertragliche Regelungen, auch solche in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, den gesetzlichen Reglungen vorgehen, natürlich unter der Voraussetzung, dass die AGB wirksam sind. Folglich ist denjenigen, die die Geltendmachung von Verzugsschäden oder die Kündigung durch den Vertragspartner wegen Nichteinhaltung oder Verzögerung von vereinbarten Leistungsterminen befürchten, vorrangig zu raten: Schauen Sie in Ihre Verträge und Allgemeine Geschäftsbedingungen, ob sich dort Klauseln zum Fall der „höheren Gewalt“ finden.
2. KLAUSELN ZU„HÖHERER GEWALT“ IN AGB
Das Positive vorweg: In den meisten von uns gesichteten Liefer- und Dienstleistungsverträgen und den dazugehörigen AGB befinden sich Klauseln zum Umgang mit Leistungsverzögerung bzw. Leistungsausfall bei „höherer Gewalt“. Grundsätzlich gilt, dass die vereinbarten Klauseln im Sinne von § 307 Abs. 1 S. 2 BGB transparent zu sein haben. Dies ist nicht der Fall, wenn eine Regelung unklar und missverständlich formuliert ist. Demnach reicht es für die Einhaltung des Transparenzgebotes im Falle der „höheren Gewalt“ nicht aus, wenn die Klausel lediglich regelt, dass die Leistungspflicht entfällt, wenn höhere Gewalt oder sonstige Umstände vorliegen, deren Beseitigung unmöglich ist. Aus einer solchen Klausel geht nicht hervor, welche Rechte der Vertragspartner ableiten kann, wenn der Verwender nicht mehr zur Leistung verpflichtet ist.
LIEFER- BZW. KAUFVERTRÄGE
Im Fall von Liefer- bzw. Kaufverträgen kann es durch die auf Grund von Corona vorgenommenen Grenzschließungen und Grenzkontrollen durch die Bundesregierung und die angrenzenden Länder zur Verzögerung bzw. zum Ausfall der Lieferung der vereinbarten Waren kommen. Zur Einschränkung von Ansprüchen des Vertragspartners wären folgende AGB-Klauseln aus unserer Sicht wirksam:
„Ereignisse höherer Gewalt - auch solche bei unseren Zulieferern - verlängern die Lieferzeit um die Dauer ihres Vorliegens mit angemessener Wiederanlaufzeit. Dies gilt auch, wenn die genannten Ereignisse zu einem Zeitpunkt eintreten, in dem wir uns im Verzug befinden. Wird die Durchführung des Vertrages aufgrund der Dauer der Verzögerung für eine der Vertragsparteien unzumutbar, so kann sie vom Vertrag insoweit zurücktreten. Weitergehende Ansprüche des Vertragspartners sind ausgeschlossen. Als höhere Gewalt gelten auch behördliche Eingriffe, Streiks, Energie- oder Rohstoffschwierigkeiten, Aussperrung, Unfälle, Betriebsstörungen oder andere Vorkommnisse, die die Lieferung wesentlich erschweren oder unmöglich machen.“
DIENSTLEISTUNGSVERTRÄGE
Als Dienstleistungsverträge sind beispielsweise Wartungsverträge von Soft- und Hardware zu klassifizieren. Im Rahmen der Durchführung solcher Verträge kann es coronabedingt zur Nichteinhaltung von vertraglich vereinbarten Wartungsterminen kommen, weil die Mitarbeiter des Wartungsunternehmens entweder bereits erkrankt sind, das Unternehmen zum Schutz seiner Mitarbeiter das Aussetzen von Wartungsterminen angeordnet bzw. diese verschoben hat oder die Wartung auf Grund von staatlichen Anordnungen nicht mehr durchgeführt werden darf.
Die Einschränkung von Ansprüchen des Vertragspartners durch folgende Klauseln dürfte aus unserer Sicht wirksam sein:
Ist die Nichteinhaltung vereinbarter Fristen auf höhere Gewalt (z.B. Naturkatastrophen, Gewalttaten, Anschläge, Streik, Aussperrung etc.) zurückzuführen oder vom Vertragspartner aufgrund von Umständen, die in seiner Sphäre liegen, zu vertreten, kann der Verwender seine Leistungserbringung für den Zeitraum der Störung unterbrechen bzw. aussetzen, ohne dadurch in Verzug zu geraten. In jedem Fall verlängern sich die Leistungspflichten um die störungs- bzw. unterbrechungsbedingte Zeit zuzüglich einer angemessenen Anlaufzeit für den AN.
FAZIT
Sollte sich in Ihren Verträgen bzw. in Ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen einer der vorgenannten beispielhaften Klauseln finden, können Sie mit einer hohen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass eine Verschiebung der Leistungstermine bzw. ein derzeitiger Leistungsausfall ohne relevante juristische Konsequenzen für Sie vereinbart ist. Sollten Sie Zweifel an der Wirksamkeit solcher Klauseln haben, kontaktieren Sie uns und wir übernehmen gerne kurzfristig eine Wirksamkeitsprüfung.
Autorin: Chantal Hasselbach
KÖNNEN ÖFFENTLICHE AUFTRAGGEBER LAUFENDE VERGABEVERFAHREN UNTER HINWEIS AUF DIE CORONA-EPIDEMIE AUFHEBEN?
Auch öfentlichen Auftraggebern kann die Corona-Epidemie einen Strich durch die Rechnung machen. So wird sich bei einigen besonders kostenträchtigen Bauvorhaben die Frage stellen, ob diese aufgrund der außerordentlichen Belastung der staatlichen Kassen durch die Epidemie und ihrer wirtschaftlichen Folgen in absehbarer Zeit überhaupt noch finanzierbar sind. Die Realisierung anderer Vorhaben könnte dadurch gefährdet sein, dass die Bauverwaltung epidemiebedingt nicht mehr über genügend Personal verfügt, die Baustellen ordnungsgemäß zu betreuen. Schließlich dürfte bei laufenden Vergabeverfahren immer häufger das Problem auftreten, dass eine gewissenhafte Prüfung bereits abgegebener Angebote wegen Personalmangels in den Vergabestellen bzw. bei den betreuenden Planungsbüros jedenfalls temporär nicht möglich ist. Es fragt sich, ob der Auftraggeber in solchen Fällen berechtigt ist, laufende Vergabeverfahren sanktionsfrei (d.h. ohne Schadensersatzansprüche der Bieter) aufzuheben?
Gemäß § 17 Absatz 1 VOB/A kann eine Ausschreibung aufgehoben werden, wenn
- ein Angebot eingegangen ist, das den Ausschreibungsbedingungen entspricht
- die Vergabeunterlagen grundlegend geändert werden müssen, oder
- wenn andere schwerwiegende Gründe bestehen.
Es dürfte naheliegen, dass sich die Vergabestellen bei einer Aufebung insbesondere auf den dritten Punkt, nämlich auf „schwerwiegende Gründe“ berufen. Inwieweit dies jedoch sanktionsfrei möglich ist, muss in jedem Einzelfall geprüft werden. Denn nach der Rechtsprechung sind strenge Anforderungen an das Vorliegen eines solchen Grundes zu stellen. Außerdem ist eine Aufebung schon dann unzuläs-sig, wenn ein milderes, gleich geeignetes Mittel in Betracht kommt. So könnte man Vergabeverfahren im Stadium vor Angebotsabgabe beispielsweise „aufs Eis legen“, indem man die Angebotsfristen für eine ausreichende Zeit verlängert. Sind die Angebote hingegen schon abgegeben, so geraten Bindefristverlängerungen schnell an ihre Grenzen, weil man die Bieter nicht für längere Zeiträume an ihre Angebote binden und damit in ihrer Dispositionsfreiheit behindern darf.
In jedem Fall berechtigen nur nachträgliche, nicht vorhersehbare Umstände oder solche anfänglichen
Umstände, die der öffentliche Auftraggeber im Zeitpunkt der Einleitung des Vergabeverfahrens auch bei pflichtgemäßer Sorgfalt nicht hätte erkennen können, zu einer sanktionsfreien Aufhebung. Das heißt im Klartext: bei Vergabeverfahren, die im März 2020 eingeleitet wurden, wird sich der öffentliche AG auf coronabedingte Aufhebungsgründe kaum mehr berufen können, bei Verfahren von Anfang des Jahres 2020 möglicherweise schon noch!
Gleichwohl kann der AG von der Rechtsprechung nicht daran gehindert werden, Vergabeverfahren aufzuheben, wenn dafür triftige Gründe bestehen und die Aufhebung nicht zu dem Zweck erfolgt, bestimmte Bieter zu bevorzugen und andere zu diskriminieren (sog. Scheinaufhebung). Stehen dem AG in einem solchen Fall keine der Aufhebungsgründe aus § 17 Abs. 1 VOB/A zur Seite, schuldet er allen Bietern, die sich im Vertrauen auf eine ordnungsgemäße Ausschreibung beteiligt haben, den Ersatz solcher Kosten, die im Rahmen der Bewerbung entstanden sind (sog. negatives Interesse). Wesentlich höher sind die Schadensersatzansprüche eines Bieters, wenn sein nach Submission an erster Stelle liegendes Angebot aufgrund der Aufhebung nicht beauftragt wird, der Auftrag aber zu einem späteren Zeitpunkt aufgrund einer neuerlichen Ausschreibung einem anderen Bieter erteilt wird. In diesem Falle kann zumindest der entgangene Gewinn als Schaden geltend gemacht werden (sog. positives Interesse). Nimmt der AG hingegen von seinem Beschaffungsvorhaben endgültig Abschied, dann entfallen derartige Ansprüche.
Unternehmen ist daher anzuraten, die Gründe möglicher Aufhebungen kritisch zu hinterfragen, insbe-sondere wenn es sich um erst kürzlich eingeleitete Vergabeverfahren handelt. Vergabestellen sollten ihre Vergabetätigkeit einstweilen aussetzen oder nur solche Bauvorhaben ausschreiben, von denen sicher ist, dass diese auch planmäßig betreut und durchgeführt werden können.
Autor: Dr. Ulrich Dieckert, RA